Fast möchte man glauben, die SPD-Spitze hätte den Karlsruher Urteilsspruch über den 2. Nachtragshaushalt 2021 schon vorausgeahnt, als sie am 15. November ihre Leitanträge für den Bundesparteitag im Dezember präsentierte. Sowohl im wirtschafts- und gesellschaftspolitisch ausgerichteten Leitantrag „Für ein starkes Deutschland“ als auch im Antrag für einen „Deutschlandpakt Bildung“ hat sich die Partei darauf festgelegt, dass die Schuldenbremse im Grundgesetz „in ihrer aktuellen Form den notwendigen Wandel aus(bremst)“. Die SPD will deshalb die „Schuldenregeln kurzfristig so ändern, dass mehr Investitionen in die Modernisierung des Landes möglich sind“. Dazu sollen zusätzlich die „allerhöchsten Einkommen und Millionenvermögen“ stärker an der Finanzierung beteiligt werden. Ein erheblicher Anteil der Mehreinnahmen für Bund und Länder soll in den „Deutschlandpakt Bildung“ fließen, der die Basis für eine gesamtstaatliche Bildungsoffensive bildet. An die Länder richtet sich die Erwartung, die Mehreinnahmen für die dringend erforderliche Stärkung und Erneuerung des Bildungssystems einzubringen.
In ihrem bildungspolitischen Leitantrag konkretisiert die Parteispitze, wie sie sich die Finanzierung des Deutschlandpakts Bildung vorstellt: „Höhere Investitionen von Bund und Ländern in eine gerechte und gelingende Bildung sollen vorangebracht werden durch die Einrichtung eines Sondervermögens für Bildung, das von Bund und Ländern gemeinschaftlich aufgebaut und bewirtschaftet wird“.
Soweit, so überzeugend, hätte nicht das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe alle bisherigen Sondervermögen in Zweifel gezogen. Damit sind zunächst einmal alle Forderungen, ähnlich wie für die Bundeswehr auch ein Sondervermögen Bildung zu installieren, wie eine Seifenblase geplatzt. Ohne eine Grundgesetzänderung geht nichts. Dahin sind somit erst einmal die Traumvorstellungen, sozusagen auf die Schnelle mit einem Bund/Länder-Investitionsfonds marode Schulen und Hochschulen (zumindest hinsichtlich ihrer baulichen Ausstattung) zu modernisieren. Auch der Digitalpakt 2.0 steht nun auf der Kippe. Mit ihm sollten die Bildungseinrichtungen und ihre Schüler:innen in die Lage versetzt werden, den technologischen Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Es rächt sich, dass die Kultusministerkonferenz mit der Bundesbildungsministerin in diesem Jahr so lange um bildungsgerechte Finanzierungsmodalitäten für das Startchancen-Programm und den Digitalpakt 2.0 gefeilscht haben, bis nun vielleicht gar nichts mehr geht – oder wenn, nur in abgespeckter Form. Freilich hat das schleppende Tempo vor allem auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) zu verantworten, der von Länderseite, aber auch koalitionsintern vorgehalten wird, sie sei einfach „nicht in die Pötte gekommen“.
Immerhin, die Länderkultusminister haben klar zum Ausdruck gebracht, dass sie die Finanzmittel aus den BMBF-Programmen für dringend erforderlich halten. Ein Stopp des Digitalpakt-Programms wäre für sie, wie die KMK-Spitze mehrfach zu Protokoll gegeben hat, eine Katastrophe. Inzwischen werden die Probleme bundesweit wahrgenommen, welche die Unionsfraktion mit ihrem Chef Friedrich Merz mit der Klage beim Bundesverfassungsgerichts ausgelöst hat.
Ein Pyrrhus-Sieg mit Wirkungen für die Länder
In die Freude, dem Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) in Verbindung mit seinem Vorgänger und Mentor Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) das Etikett der Vorlage eines verfassungswidrigen Haushalts anhängen zu können, mischt sich das böse Erwachen in den Landeshauptstädten, wo nun auch die zehn Regierungen der CDU/CSU-geführten Länder vor dem Hintergrund der Schuldenbremse nun nicht mehr so schalten und verwalten können wie bisher. So manches Vorhaben wird auf den Scherbenhaufen des Bundesverfassungsgerichts geworfen werden müssen. Die Spielräume der Geldausgabe-Politik werden jedenfalls ohne eine Reform der Schuldengrenze, die Zukunftsinvestitionen ermöglicht, sehr viel enger – mit schwerwiegenden Folgen für die Zukunft unseres Landes, wie der Leitantrag der SPD-Spitze dies für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit voraussagt. Das haben inzwischen auch die meisten CDU-Regierungschefs begriffen und positionieren sich ähnlich. Die Entwicklung des Bildungswesens – von Chancengleichheit ganz zu schweigen – ist seit Jahrzehnten vernachlässigt worden und rächt sich jetzt mit wachsendem Fachkräftemangel. Doch den Gralshütern der uneingeschränkten „glasklaren“ Schuldenbremse in FDP (Lindner, Dürr), CDU/CSU (Merz) und dem Bundesrechnungshof (BRH) scheint das egal zu sein.
Wird eine stärkere Beteiligung des Bundes an den Bildungsausgaben ausgebremst?
Bereits in den Jahren zuvor und zuletzt am 5. August 2022 hatte der immer wieder die Keule gegen die bundesfinanzierten Bildungsprogramme geschwungen mit der Begründung, die Finanzhilfen des Bundes würden „systembedingt“ nicht bedarfsgerecht verteilt. Das Postulat des BRH lautete: „Die Beteiligung des Bundes sollte nicht verlängert werden“ (vgl. zwd-POLITIKMAGAZIN Ausgabe 397, S. 7). In der aktuellen Haushaltslage könnten solche Forderungen die Befürworter:innen eines stärkeren Bundesengagements für Bildung ausbremsen.
Kein Zweifel: Die Bildungspolitik von Bund und Ländern muss neu justiert werden, damit das Ziel, einen neuen Bildungsaufbruch anzuschieben, nicht auf halber Stecke stecken bleibt. Der SPD-Leitantrag plädiert zutreffend dafür, die Steuerung, Gestaltung und Finanzierung unseres Bildungssystems neu zu denken und als gesamtstaatliche Aufgabe zu organisieren. Allerdings wäre ein bloßer Bund/Länder-Staatsvertrag, wie ihn der Leitantrag Bildung vorschlägt, ein viel zu schwerfälliges Instrument, um damit nicht nur auf befristete Projekte ausgerichtete Programme (z.B. Schulbau, DigitalPakt) zum Laufen zu bringen. Ein solches Instrument böte eher eine Plattform, um Länderegoismen zulasten des Gesamtstaats auszuleben.
Zu den ersten Schritten einer Neujustierung der Bund/Länder-Bildungszusammenarbeit – im Verständnis von Kooperationsgeboten statt -verboten – gehört deshalb, die Schuldenbremse, wie in den SPD-Leitanträgen und auch von den Grünen gefordert, jetzt erst recht zu reformieren. Darüber herrscht bei der Mehrheit der Haushaltssachverständigen seit Karlsruhe kein Streit, denn sie gilt als viel zu inflexibel konstruiert. Prof. Dr. Heribert Prantl hat das in seiner Kolumne in der Süddeutschen Zeitung am 19. November trefflich auf den Punkt gebracht: „Die Schuldenbremse aus dem Jahr 2009 gehört zum Unsinnigsten, was je ins Grundgesetz geschrieben wurde. Es war seinerzeit der vom Populismus getriebene Versuch, eine gleichfalls vom Populismus getriebene Schuldenmacherei plakativ zu unterbinden.“
Doch die Reform der Schuldengrenze ist ohne eine Grundgesetzänderung ebenso wenig erreichbar wie ein milliardenschwerer Sonderhaushalt für Bildung und Forschung. Die Idee, diesen Sonderhaushalt als gemeinsames Instrument in der Verwaltung von Bund und Ländern zu realisieren, dürfte schnell an verfassungsmäßige Grenzen stoßen. So wie zu früheren Zeiten die Gemeinschaftsaufgaben, z.B. Hochschulbau, droht eine „Bildungsrepublik“ à la Merkel wieder im Gestrüpp von Kompetenzansprüchen der Länder hängen zu bleiben. Die FDP, einstmals eine strahlende Bildungsreform-Partei, scheitert mit ihren Bildungsaufbruch-Wahlparolen ohnedies an der Umsetzung durch die Verantwortlichen im BMBF.
[Das Ressort wäre bei der SPD besser aufgehoben gewesen – die Leitanträge haben dazu den Weg aufgezeigt.]
Tauchstation hilft nicht, sondern nur ein klarer Schnitt: Rücktritte sind überfällig
Bei Bettina Stark-Watzinger wie auch bei ihrem Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner fehlt das Gespür dafür, was für die Bewältigung des Alltags in der „Bildungsrepublik“ dringlich ist. Die eine scheint mit ihrem Ressort überfordert. Der andere versucht vor der Verantwortung für den von ihm vorgelegten verfassungswidrigen Haushalt wegzutauchen, indem er seinen Haushalts-Staatssekretär zum Bauernopfer macht. Dabei wäre Lindners Rücktritt Ausdruck von Selbsterkenntnis gewesen („besser nicht regieren als falsch regieren“ – 20.11.2017). Er ist ebenso überfällig wie Stark-Watzingers Ausscheiden aus dem Amt.
Bleibt die Frage, mit wem die SPD den bildungspolitischen Aufbruch schaffen kann. Die Grünen wären die naheliegendste Partnerschaft. Doch mit ihnen allein bliebe eine zwingend gebotene Grundgesetzänderung unrealistisch. Bedarf es also einer breiten Koalition unter Mitwirkung der Union? Am Ende ihrer Amtszeit war die GroKo unbeliebt, ähnlich wie jetzt die Ampel. Aber in schnelllebigen Zeiten ändern sich die Zustimmungslagen. Der Kanzler, ehemals Finanzminister in einer CDU-geführten Bundesregierung, könnte so sicherlich gut weiter regieren. Die erneute GroKo wäre aber nur rechnerisch ein Ausweg.
Es wäre erst einmal genau zu besehen, mit welchen Inhalten das Werben von Söder, Merz und Co. für eine Neuauflage einer Bundesregierung mit Unionsbeteiligung unter einem SPD-Bundeskanzler verknüpft wäre und wieweit die Union den Ballast von Regierungsversagen aus 16 Jahren Merkel-geführter Bundesregierung hinter sich lassen und zu neuen Ufern aufbrechen könnte. Das Unrechtsbewusstsein ist jedenfalls bei Spahn, Scheuer und Co. wenig ausgeprägt – anders scheinbar bei CDU-Ministerpräsidenten in NRW, Schleswig-Holstein, Berlin und Hessen. Ob ein Kurs, als Junior-Partner mit der SPD zusammenzugehen, in der Union mehrheitsfähig wäre, ist nicht ausgemacht. Die Sozialdemokratie andererseits stünde bei einem Koalitionswechsel in Richtung Union vor einer Zerreißprobe. Und würde die bundesdeutsche Gesellschaft vor die Herausforderung stellen, nicht in die Arme von Populisten außerhalb des demokratischen Spektrums zu fliehen.
[Veröffentlicht im zwd-POLITIKMAGAZIN, Ausgabe 399 (A)]