zwd-POLITIKMAGAZIN, AUSGABE 394 IST VERFÜGBAR : Fragwürdig: Medienberichterstattung | Wahlrechtskommission | Sprachkitas | Geschlechterungerechtigkeit

18. Januar 2023 // Redaktion

Die Polizeiliche Kriminalstatistik erlebt einen Paradigmenwechsel: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat anlässlich der Vorstellung einer Sonderauswertung der Kriminalstatistik klargestellt: "Wenn Männer Frauen töten, weil sie Frauen sind, dann ist es angemessen und auch notwendig, von 'Femizid' zu sprechen". Das neue zwd-POLITIKMAGAZIN informiert über das Erfassung von Gewalttaten gegenüber Frauen und den unzulänglichen sprachlichen Umgang der Medien mit solchen vermeintlichen "Familientragödien", bei denen Frauen nicht selten mindestens eine Mitschuld zugewiesen wird.

zwd-Titel Ausgabe 394
zwd-Titel Ausgabe 394

Bundesinnenministerin Nancy Faeser: „Wenn Männer Frauen töten, weil sie Frauen sind, dann ist es angemessen und auch notwendig, von ‚Femizid‘ zu sprechen“

In der Titelgeschichte beleuchtet zwd-Herausgeber Holger H. Lührig das Thema "Gewalt an Frauen" anhand der Sonderauswertung der bundesdeutschen Kriminalstatistik sowie unter dem Aspekt des medialen Umgangs mit der Tötung von Frauen (Femizide). Ergänzt wird sein Bericht durch zwei Expert:innen-Beiträge der Professor:innen Anatol Stefanowitsch und Christine E. Melzer (siehe unten).

Am 24. November 2022, einen Tag vor dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, hat die Bundesregierung erstmals den Begriff Femizide als Beschreibung für Tötungsdelikte gegenüber Frauen verwendet. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte anlässlich der Vorstellung einer Sonderauswertung der polizeilichen Kriminalstatistik: „Wenn Männer Frauen töten, weil sie Frauen sind, dann ist es angemessen und auch notwendig, von ‚Femizid‘ zu sprechen“. Die Vereinten Nationen und UN Women prangerten in einer am 24. November veröffentlichten Mitteilung an, dass pro Stunde im weltweiten Durchschnitt fünf Frauen und Mädchen von ihren Partnern oder Familienmitgliedern getötet werden. (...)

Prof. Anatol Stefanowitsch: Was das Wort „WEIL“ verrät: Medienberichte – „Männer töten Frauen, weil ...“

Sprache wird beim Thema Gewalt gegen Frauen oft vernachlässigt. In seinem Beitrag veranschaulicht Prof. Dr. Anatol Stefanowitsch (FU Berlin) anhand von Sprachbeispielen, welche Rolle Stereotype und Verharmlosungen sowie Falschauslegungen in den Medien spielen. Seinem Vortrag, den wir hier in einer Textfassung veröffentlichen, hat Stefanowitsch bemerkenswerte Dankesworte vorangestellt:

„Ich möchte mich (...) zunächst bei den Frauen bedanken, die die feministische Linguistik begründet haben und von deren Arbeiten ich viel darüber lernen durfte, wie die Macht der deutschen Sprache gegen Frauen gerichtet wird – Frauen wie Roblin Lakoff, Luise Pusch, Senta Trömel-Plötz und Marlies Hellinger.“ (...)

Professorin Christine E. Melzer: Gewalt gegen Frauen und die Rolle der Medien

Die im November 2022 neu veröffentlichte polizeiliche Kriminalstatistik zu partnerschaftlicher Gewalt bestätigt eine traurige Wahrheit erneut: Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann seine Frau umzubringen, jeden dritten Tag gelingt dies. Mindestens ein Mal pro Stunde wird eine Frau in Deutschland körperlich verletzt. Von allen in Deutschland getöteten Frauen stirbt beinahe die Hälfte durch die Hand eines Partners oder Expartners. Diese Zahlen verbleiben seit der ersten Erfassung zu partnerschaftlicher Gewalt im Berichtsjahr 2015 auf stabil hohem Niveau. Gleichzeitig liegt auf dem Thema ein starkes Tabu: Dunkelfeldstudien zeigen, dass nur ein Bruchteil der Gewalttaten jemals zur Anzeige gebracht wird.

Vieles spricht dafür, dass Medien für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Gewalt gegen Frauen eine Rolle spielen. (...)

Weitere Themen dieser Ausgabe:

 Wahlrechtskommission des Bundestages: Parität kommt nicht voran (Holger H. Lührig)

Mit einem straffen Zeitplan will die Wahlrechtskommission des Deutschen Bundestages ihren Auftrag erfüllen, gemäß Paragraf 55 des Bundeswahlgesetzes Vorschläge für die Modernisierung des Wahlrechts, der Parlamentsarbeit sowie zur gleichberechtigten Repräsentanz von Frauen und Männern im Parlament zu unterbreiten. Dabei wird deutlich, dass über zentrale Fragen in der Kommission kein Konsens besteht. Das gilt besonders für eine gesetzliche Paritätsregelung. Immerhin sind seit Mitte Dezember die Sitzungsprotokolle der Sitzungen ab August des Jahres öffentlich zugänglich. (...)

 Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bremen - ganz praktisch (Beitrag von Senatorin Claudia Bernhard)

Politiker:innen treffen jeden Tag Entscheidungen über Richtlinien, Maßnahmen und Gesetze, die dem Wohle aller in der Gesellschaft dienen und die unser Miteinander auf unterschiedlichsten Ebenen regeln sollen. Dabei lassen sie sich von Expert:innen und Fachleuten aus ihren Ministerien beraten und beziehen teilweise auch die Meinungen von externen Berater:innen oder Wissenschaftler:innen ein. Ganz besonders wichtig – aber in der Praxis noch nicht sehr verbreitet – ist die Einbeziehung von Betroffenen, deren Expertise auf persönlichen Erfahrungen beruht. Für uns in Bremen war es bei der Maßnahmenplanung des Bremer Landesaktionsplans zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, um Frauen und Kinder vor Gewalt zu schützen von Anfang an wichtig, von sexueller und häuslicher Gewalt betroffene Frauen mit einzubeziehen. (...)

 Feministisch beleuchtet: Nachhaltiger und gerechter Fortschritt (Elke Ferner)

Debatten über Zukunftsthemen brauchen eine Geschlechterperspektive. Die vollständige und gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen ist die Vorrausetzung für nachhaltige Entwicklung. Die Herausforderungen der Zukunft können nur dann bewältigt werden, wenn die Lösungsvorschläge eine Geschlechterperspektive enthalten und eine konsequente Gleichstellungsfolgenabschätzung (gender impact assessment) erfolgt. Sowohl vor dem Beschluss über die Maßnahmen als auch nach der Implementierung. (...)

Wir brauchen nicht nur eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik. Wir brauchen auch eine feministische Innenpolitik – in allen Politikfeldern! (...)

 Die Zukunft der Sprachkitas (Hilda Lührig-Nockemann)

Der Bundestag hat am 2. Dezember in zweiter und dritter Lesung den Entwurf für das Zweite Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung (KiTa-Qualitätsgesetz) verabschiedet. Das KiTa-Qualitätsgesetz löst das bisherige Gute-KiTa-Gesetz ab. Die Bundesregierung plant auf der Grundlage des Bundeshaushalts 2023 sowie der Mittelfristigen Finanzplanung, in den Jahren 2023 und 2024 vier Milliarden Euro in frühkindliche Bildung zu investieren. Ziele des Gesetzes sind bundesweit einheitliche Standards, für die unter anderem sieben Handlungsfelder benannt worden sind, darunter auch die sprachliche Bildung. Damit können – je nach den Prioritätensetzung der Länder – auch die Sprach-Kitas weitergefördert werden. Die Zustimmung des Bundesrates zu dem Gesetzgebungsvorhaben auf seiner Plenarsitzung am 16. Dezember (nach Redaktionsschluss) gilt als sicher. Das seit 2016 aufgelegte Bundesprogramm wird nach Länderprotesten bis zum 30. Juni 2023 verlängert. In dem nachstehenden Beitrag hat zwd-Chefredakteurin Hilda Lührig-Nockemann die seit dem Frühsommer 2022 geführte zivilgesellschaftliche und politische Debatte um die Zukunft der Sprach-Kitas nach dem Auslaufen der spzeziellen Bundesförderung nachgezeichnet.

 Bildungspolitischer Weckruf für 2023 (Dr. Ernst Dieter Rossmann)

Da müssen sich alle ehrlich machen: Was mit den Ergebnissen des IQB – Bildungstrends 2021 zu den Bildungsstandards der Schülerinnen und Schüler in der 4. Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch und Mathematik bekannt geworden ist, konnte nicht eigentlich erstaunen. Die Ergebnisse aus der dritten Studie dieser Art für ganz Deutschland wie auch im Vergleich der einzelnen Bundesländer hatten sich auch schon 2011 und 2016 in den früheren Untersuchungen abgezeichnet. Es gibt in allen Bereichen und in fast allen deutschen Ländern einen deutlich negativen Trend bei den gemessenen Leistungen im Lesen, Schreiben, Zuhören und beim Rechnen. Rund 20 % der Schülerinnen und Schüler erreichen nicht einmal die Mindeststandards, von den Regelstandards, die das eigentliche Bildungsziel sein sollen, ganz zu schweigen.Diese werden nur noch von ungefähr der Hälfte der Kinder erreicht, bei der Rechtschreibung nicht einmal das.

Hier sind jetzt KMK und Bund gefordert, den Nationalen Bildungsrat, wenn nicht vom Titel, sondern jedenfalls faktisch wirksam werden zu lassen. Das wird harte Verhandlungen bedürfen, zumal sich mit wohlfühliger Gemeinsamkeit von A- und B- und Grünen-Seite zur Stärkung der Basis-Fächer um ein paar Unterrichtsstunden nicht das komplexe Problem der sozioökonomisch benachteiligten Schülerschaft auflösen lassen wird. Da gehört mehr konkrete Substanz dazu: Ein gemeinsamer Masterplan von Ländern und Bund. (...)

 Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit (Prof.in Hannelore Faulstich-Wieland)

(...) Die „Genderfrage“ spielte immer wieder in den Bildungsdiskussionen durchaus eine Rolle, allerdings täuscht der Eindruck, es gäbe mittlerweile eine Gendersensibilität in deutschen Schulen. Es gibt keine verlässlichen Erhebungen oder statistischen Daten, die zeigen, wie viele Schulen „geschlechtergerecht“ arbeiten. Nun heißt das umgekehrt keineswegs, dass sich nichts tun würde, um Benachteiligungen von Mädchen oder Jungen zu verhindern und alle Kinder zu fördern. Die Schwierigkeiten für solche Aktivitäten sind jedoch (mindestens) in dreifacher Weise vorhanden:

  1. Zum einen ist unklar, wer denn wie und wodurch benachteiligt ist.
  2. Die zweite Schwierigkeit besteht in der Angabe des Ziels: Was ist überhaupt Geschlechtergerechtigkeit?
  3. Daraus folgt als drittes Problem die Frage, wie der Genderproblematik in der Schule begegnet werden soll, wie das Ziel also erreicht werden kann. (...)

 Zwischenruf: Die stillen Helden der beruflichen Ausbildung (Dr. Ernst Dieter Rossmann)

Mehr Konzentration auf die schulische Grundbildung statt auf die gymnasiale Oberstufe, endlich mehr Unterstützung für die Schulen in besonderer sozialer Lage, mehr Berufsvorbereitung und Ausbildungsbegleitung, die den jungen Menschen und gleichzeitig den Betrieben hilft, eine substantielle Ausbildungs-garantie mit einem Rechtsanspruch auf einen vollwertigen Ausbildungsplatz, und sei es in der über- und notfalls auch außerbetrieblichen Form – das alles sind jetzt Maßnahmen, die gerade von einer sozialdemokratisch geführten Fortschrittskoalition demonstrativ vorangebracht werden müssen.(...)

 Rückgabe der Benin-Bronzen (Bericht: Hilda Lührig-Nockemann)

Es ist in der Tat ein langer Weg gewesen. In doppelter Hinsicht! 125 Jahren nach ihrem Raub und 50 Jahren nach dem ersten Rückgabe-Gesuch von nigerianischer Seite kehren die ersten 20 Benin-Bronzen in ihre Heimat Nigeria zurück.(...)


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