GESELLSCHAFT CHANCENGLEICHHEIT : Prof. Dr. Rolf Wernstedt: 16 Thesen über Bildungsgerechtigkeit

18. März 2022 // Rolf Wernstedt

Der Begriff der "Chancengerechtigkeit" kommt im Sprachgebrauch einiger Politiker:innen und auch des Bundesministeriums für Bildung und Forschung häufiger vor. Was verbirgt sich dahinter im Gegensatz zum Terminus "Chancengleichheit"?

zwd Berlin (GesCH). Der Begriff der "Chancengerechtigkeit" wurde Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts von den Unionsparteien als Kampfbegriff gegen von der sozialliberalen Koalition unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) verwendeten Begriff der "Chancengleichheit" in die bildungspolitische Debatte eingebracht. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und digital-technologischen Umbruchs in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts erscheint es sinnvoll, das von SPD, Grünen und FDP in ihrem Ampel-Koalitionsvertrag Postulat der gleichen Chancen für alle nochmals zu unterfüttern. Der ehemalige niedersächsische Kultusminister und Landtagspräsident Prof. Dr. Rolf Wernstedt macht hierzu für den Diskurs der Gesellschaft Chancengleichheit e.V. den Aufschlag.

Im zwd-POLITIKMAGAZIN, Ausgabe 389, haben wir anhand der Beispiele von Koalitionsvereinbarungen bzw. Koalitionsgesprächsergebnissen hinterfragt, ob die Zielsetzungen der von der SPD geführten Koalitionen in Mecklenburg-Vorpommern, in Berlin sowie auf Bundesebene vom Anspruch der Herstellung von Chancengleichheit und des Abbaus von Bildungsungerechtigkeit geprägt sind. Weil in den Berliner Sondierungsgesprächen von „Chancengerechtigkeit“ die Rede war, haben wir darauf hingewiesen, dass die beiden häufig synonym gebrauchten Begriffe von ihrer historischen Bestimmung nicht gleichbedeutend sind. Auch die Berliner Koalition hat danach den Begriff Chancengleichheit dann zum zentralen Ansatz ihrer Bildungspolitik deklariert. Soweit so gut. Trotzdem kommt der Begriff der Chancengerechtigkeit im Sprachgebrauch einiger Politiker:innen und auch des Bundesministeriums für Bildung und Forschung weiterhin vor. Dieser Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts von den Unionsparteien eingeführten Begriff der "Chancengerechtigkeit" war als Kampfbegriff dem von der sozialliberalen Koalition unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) verwendeten Begriff der Chancengleichheit entgegengestellt worden. Manche Politiker:innen - auch der Ampel-Koalition - verwenden den Begriff der Chancengerechtigjkeit gleichwohl synonym anstelle des Begriffs Chancengleichheit. Das ist mindestens historisch fragwürdig. Aber es geht mehr als nur um ein Wort. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und digital-technologischen Umbruchs in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts müssen wir uns vergegenwärtigen und nochmals begründen, was unter dem Postulat der Chancengleichheit zu verstehen ist. Die Gesellschaft Chancengleichheit lädt alle Interessierten zu einem Diskurs ein. Prof. Dr. Rolf Wernstedt eröffnet dien Diskurs mit einem Thesenpapier. Er war Vorsitzender der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Bildung (1987-1991), niedersächsischer Kultusminister und Landtagspräsident). In den nächsten Wochen erscheinen weitere Beiträge. Sie bilden die Grundlage für eine (virtuelle) Konferenz, die die Gesellschaft Chancengleichheit im Spätfrühjahr 2022 durchführen wird. Interessierte, die an der Konferenz teilnehmen möchten, bitten wir um Kontaktaufnahme unter info@chancengleichheit.de.

Holger H. Lührig, Sprecher der Gesellschaft Chancengleichheit e.V.




Rolf Wernstedt

16 Thesen über Bildungsgerechtigjkeit

1. Chancengleichheit war (und ist) das zentrale von der Sozialdemokratie geprägte Ziel der Reform des Bildungswesens. Sie meint, dass für Menschen, die von ihnen nicht zu vertretene Nachteile, an jeder Bildung teilnehmen zu können, abgebaut werden sollen.

2. Ziel der Chancengleichheit ist die verbesserte Möglichkeit, qualifizierte Arbeitsplätze und Teilhabe am gesellschaftlich, kulturellen Leben zu erreichen.

3. Chancengleichheit meint ausdrücklich nicht, dass dies garantiert werden kann. Denn die Wirksamkeit der Maßnahmen ist nicht pauschal zu beurteilen.

4. Außerdem schließt die Forderung nach Chancengleichheit den Lernwillen der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen ein. Bewusste Lernverweigerung ist kein politisches, sondern ein psychologisches Problem.

5. Chancengleichheit geht von einem dynamischen Begabungs- und Bildungsbegriff aus. Dieser meint, dass Begabung bestimmt wird durch unveränderliche erbliche Anlagen einerseits und gesellschaftlich bedingte Umstände (familiäre, soziale, materielle etc.) andererseits.

6. Wie stark welcher Anteil ist, ist nicht von vornherein festlegbar, da man auf die erblichen Anlagen keinen Einfluss hat.

7. Deshalb meint die Forderung nach Chancengleichheit immer, die beeinflussbaren Faktoren positiv zu wenden. (Personalvermehrung, Ausstattungen, bauliche Qualität, Ganztagsschulen etc.).

8. Der Erfolg der Bildungsreform zeigt sich darin, dass die Zahl höherer Bildungsabschlüsse in den letzten 50 Jahren enorm gesteigert werden konnte.

9. Das hat nicht dazu geführt, für alle Menschen das Versprechen oder die Hoffnung auf gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt oder der kulturellen Welt herzustellen.

10. Die Bildungspolitik hat das Problem unterschätzt, das dadurch entsteht, dass sog. akademische Bildung als höherwertiger als berufliche Bildung eingeschätzt wird.

11. Sogenannte bildungsferne Schichten sollten nicht stigmatisiert werden.

12. Ausschließlich intellektuelle Wertschätzung gefährdet den Zusammenhalt einer Gesellschaft, in der es auf demokratische Gesinnung, Rücksichtnahme, Neugier, ethische Grundüberzeugungen, Gerechtigkeitsempfinden, Teamfähigkeit etc. ankommt.

13. Diese Werte und Kompetenzen gelten für jeden. Deshalb ist die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung so grundlegend.

14. Die neuere technologische und digitale Entwicklung verlangt eine Veränderung dieses Rankings, denn die spezifische Eigenlogik jeder zielgerichteten Arbeit, ganz gleich, in welcher Flexibilität sie sich abspielt, verlangt gleiche Anerkennung.

15. Chancengleichheit ist zu unterscheiden von dem Begriff der Chancengerechtigkeit, wie er gern von Konservativen verwandt wird. Wenn man ein Menschen- und Gesellschaftsbild hat, das die Unterschiedlichkeit für richtig hält (z. B. Frauen sind von Natur aus dümmer als Männer, oder Arbeiterkinder sind weniger begabt als Akademikerkinder oder Reichtum ist ein Ausdruck von natürlicher Überlegenheit etc.), dann erscheinen plötzlich die größten Ungerechtigkeiten als gerecht.

16. Das war und ist niemals das Ziel sozialdemokratisch geprägter Reformanstrengungen.

Artikel als E-Mail versenden