BERLIN VOR DEM SPD-LANDESPARTEITAG : Warum Rücktritte und eine Neuaufstellung unvermeidlich sind

24. Mai 2023 // Holger H. Lührig

Wer und was ist verantwortlich für das schlechteste Wahlergebnis der SPD in Berlin seit der Wiedervereinigung und welche Konsequenzen muss die Partei daraus ziehen? Diese Fragen rücken in den Mittelpunkt des SPD-Landesparteitages am kommenden Freitag. Vordergründig geht es (schlüssig) um die Trennung von Amt und Mandat, tatsächlich geht es um den Rücktritt der SPD-Landesvorsitzenden Franziska Giffey, die bisher jede persönliche Selbstkritik vermieden hat. Eine Einschätzung von zwd-Herausgeber Holger H. Lührig.

Grafik zwd; Bildquelle Giffey: SPD Berlin, Foto: Jonas Holthaus
Grafik zwd; Bildquelle Giffey: SPD Berlin, Foto: Jonas Holthaus

Giffey sieht keine persönliche Verantwortung, sondern sagt über sich: "Berlin braucht mich"

Bereits in einer Sendung mit Markus Lanz hatte die SPD-Landeschefin erklärt, Berlin brauche sie. Später begründete sie ihr Vorhaben, die SPD in eine Juniorpartnerschaft mit der CDU zu führen mit der Darstellung, sie übernehme mit dem Rückzug vom Amt der Regierenden Bürgermeisterin "Verantwortung für Berlin". In diesen Kontext passt auch das jüngste Interview der SPD-Landesvorsitzenden am 24. Mai im Berliner Tagesspiegel. Dort hat Giffey deutlich gemacht, dass sie offensichtlich keine persönliche Verantwortung dafür sieht, dass sie als Spitzenkandidatin die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus verloren hat. Sie macht stattdessen die "alte Koalition" aus SPD, Grünen und Linken dafür verantwortlich, der es nicht gelungen sei, wichtige zentrale Themen wie Wohnungsbau (SPD-Ressortverantwortung), innere Sicherheit (SPD-Ressortverantwortung) und eine ausgewogene Verkehrspolitik (Ressortverantwortung: Grüne) zu adressieren.

Zu ihrer persönlichen Rolle und Verantwortung befragt, sagte Giffey hingegen wörtlich: "Ich habe in den Außenbezirken immer wieder die Rückmeldung bekommen: Frau Giffey, wir finden gut, was Sie machen, aber Sie gehen wieder mit den Grünen und Linken zusammen und das wollen wir nicht, deshalb wählen wir die CDU". Die Ex-Regierende und jetzige Wirtschaftssenatorin forderte ihre Partei auf, "selbstkritisch zur Kenntnis (zu) nehmen, dass das rot-grün-rote Bündnis eine viertel Million Stimmen verloren hat und die SPD allein 52.000 Stimmen an die CDU".

Rot-Grün-Rote Koalition hat an das Nicht-Wähler:innen-Lager 127.000 Stimmen verloren, an die CDU lediglich 78.000 Stimmen

Tatsächlich zeigt der Blick auf die Wählerwanderungen (laut "tagesschau.de"/infratest.dimap) ein anderes Bild: Demnach haben die bisherigen Koalitionsparteien SPD, Grüne und Linke zusammengerechnet 127.000 Stimmen an das NIchtwähler:innen-Lager verloren: die SPD die meisten Stimmen (57.000), die Grünen 34.000 und die Linke 40.000. Andererseits sind 14.000 Stimmen im Koalitionslager geblieben (die SPD bekam von den Grünen 12.000 und von Linken 2.000 Stimmen. Tatsächlich muss der Rechtsruck, der vornehmlich durch die Nichtwähler:innen möglich wurde, der SPD sehr viel stärker zu denken geben als die Tatsache, dass sie 53.000 Stimmen an die CDU und 4.000 an die AfD verloren hat. Ohne den vergleichsweise marginalen Stimmenzuwachs von Grünen und Linken wäre die SPD nämlich sogar auf Platz drei abgerutscht. Das ist das eigentliche Menetekel für die nächsten Berliner Wahlen.

Die Grünen haben 15.000 Stimmen an die CDU abgegeben und von den Linken 4.000 Stimmen gewonnen. Die Linken haben an die anderen Parteien 25.000 Stimmen verloren. Die FDP hat vor allem den Einzug in das Abgeordnetenhaus nicht geschafft, weil 29.000 Stimmen an die CDU abwanderten (Nichtwähler:innen 25.000).

Nicht der Stimmenverlust an die CDU, sondern an das Nichtwähler:innen-Lager muss den Ausgangspunkt der Wahlanalysen bilden

Die Wahlanalyse muss also nicht - wie von Giffey unterstellt - aus den Stimmengewinnen der CDU von den bisherigen Koalitionsparteien (78.000) Schlussfolgerungen ziehen, sondern zunächst einmal aus dem Nichtwähler:innen-Ergebnis. Wenn nun die überwiegende Mehrheit der SPD-Landesvorstandsmitglieder im Senat oder in der Fraktion Posten übernommen haben, ergibt sich - wie auf der SPD-Bundesebene - logisch die Konsequenz, dass der Landesvorstand nicht dazu da sein kann, stromlinienförmig die Politik in einer CDU-geführten Koalition abzunicken. Die SPD hat mit ihrer von Regierungsmandaten unabhängigen Doppelspitze auf Bundesebene gute Erfahrungen gemacht, was letztlich für den Vorstoß der Jusos auf dem Landesparteitag am 26. Mai spricht.

Mit dem Rücktritt des Landesvorstandes den Weg freimachen für einen Neuanfang

Entscheidend aber dürfte sein, ob die Partei aus der Niederlage der SPD-Spitzenkandidatin, die sogar ihren eigenen Wahlkreis in Neukölln nicht mehr wiedergewinnen konnte, an Giffey die Erwartung formuliert, zurückzutreten und den Weg für eine Neuaufstellung der SPD auf Berliner Landesebene freizumachen. Aus innerparteilicher Verantwortung gilt deshalb die Forderung nach einem vorzeitigen Rücktritt auch für den gesamten Landesvorstand.

Aktueller Nachtrag: In Bremen hat sich am 24. Mai die SPD-Führung für eine Fortsetzung des rot-grün-roten Bündnisses entschieden. Die Koalition habe einen guten Job gemacht, stellte der Bürgetmeister und SPD-Spitzenkandidat Andreas Bovenschulte fest. SPD-geführte Koalitionen unter Mitwirkung der Grünen gibt es in Niedersachsen und Hamburg sowie Rheinland-Pfalz, mit Linken in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg ist auch die CDU mit an Bord. Unter Führung der der CDU wirken die Grünen in Koalitionen in Schleswig-Holstein, Hessen und Nordrhein-Westfalen mit, in Sachsen-Anhalt und Sachsen stellt die CDU den Regierungschef, im Bündnis mit SPD und FDP bzw. Grünen und SPD. Eine Alleinregierung der SPD gibt es seit 2022 im Saarland.


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