HAMAS-ÜBERFALL, ANTISEMITISCHE PROTESTE
UND DER BUNDESHAUSHALT
: Wer Frieden will, braucht eine ausgewogene Lösung

31. Mai 2024 // Hilda Lührig-Nockemann & Holger H. Lührig

Freund:innen des israelischen Volkes zu sein, gehört sozusagen zu unserer persönlichen DNA. Die Rechte des palästinensischen Volkes zu achten, folgt unserem Anspruch, für die Wahrung der Menschenrechte weltweit einzutreten.

Solidarität mit wem und wofür

Wir könnten, so betrachtet, die Reihe fortsetzen: das ukrainische Volk, das russische Volk, die Liste der vielen unterdrückten Völker ist schier endlos. Ein Schwarz-Weiß-Schema liegt der Denke zugrunde, für oder gegen Beteiligte Partei zu ergreifen.

Das zeigt sich auch an dem Disput über propalästinensische Proteste an deutschen Hochschulen. Ist das in einem Land erlaubt, das sich aus Staatsraison nach dem 7. Oktober klar an die Seite Israels gestellt hat? Dass die israelische Regierung das Ziel verfolgt, eine Wiederholung solcher Taten dieser terroristischen Organisation für die Zukunft zu verunmöglichen, ist verständlich. Insoweit ist der Anspruch auf Selbstverteidigung durch das Völkerrecht legitimiert.

Das Vorgehen der Nethanyahu-Regierung beschädigt das Ansehen Israels

Doch das Vorgehen der rechtsnational-religiös geprägten Regierung Netanyahu hat Israels berechtigtes Anliegen auf Verteidigung mit dem Ziel, langfristige Sicherheit zu erlangen, inzwischen erheblich beschädigt. Niemand kann über die flächendeckende Bombardierung des Gaza-Streifens in Schutt und Asche hinwegsehen, wie dies die täglich über den Bildschirm flimmerndem TV-Streifen veranschaulichen. Wir werden an ähnliche Kriegsfolgen-Bilder erinnert, wie sie die Menschen im 2. Weltkrieg an vielen Orten Deutschlands und Europas erfahren haben, ähnlich wie jetzt wieder in der Ukraine. Wie sich die Bilder gleichen: Hierzulande hat damals die verbrecherische NS-Clique – wie heute die HAMAS-Clique – viele Menschenleben geopfert, um den eigenen Niedergang so lange wie möglich hinauszuzögern. Doch die Bilder haben auch eine andere Facette. Sie verzerren das kritische Bild zu stupidem Antisemitismus.

Wie viel Leid, wie viele Tote sind als "Kollateralschäden" zu rechtfertigen?

Denn niemand kann darüber hinwegsehen, dass jüdische Siedler im Westjordanland sich – weitgehend unbehelligt von der Nethanyahu-Administration – wie Besatzer aufführen und beispielsweise den überlebensnotwendigen Transport von Lebensmitteln in den Gaza-Streifen torpedieren. Wie viele Palästinenser beim Kampf der israelischen Armee gegen die HAMAS ums Leben gekommen sind, können wir angesichts der ungesicherten Quellenlage nur ahnen. Es dürften Zehntausende sein. Gerade wenn klar ist, dass die HAMAS die Bewohner:innen in Gaza als menschliche Schutzschilde zur Erhaltung ihres seit Jahren nicht mehr durch Wahlen legitimierten Machtanspruchs benutzt, drängt sich die Frage auf, ob so viel Leid und Tote als „Kollateralschäden“ zu rechtfertigen sind. Es mehren sich nicht von ungefähr die Zweifel, ob überhaupt und in welcher Art Nethanyahu einen Sieg gegen die HAMAS erreichen kann. Ein Pyrrhus-Sieg? Ist es nicht wie der Kampf gegen die Hydra, der neue Köpfe nachwachsen, übersetzt: Viele junge Palästinenser:innen und dogmatische Israelis, die nur den antisemitischen Kampf, aber nicht die Wege zum Frieden und zu guter Nachbarschaft nebeneinander lernen. Bislang sind alle israelischen Bemühungen, eine neue palästinensische Zivilverwaltung in Gaza zu etablieren, am Widerstand der HAMAS gescheitert. Sie hat im Zweifel dafür gesorgt, dass diejenigen, die ihre Bereitschaft zur Mitwirkung am Neuaufbau in Gaza bekundet haben, diese Zukunftsoffenheit mit ihrem Leben bezahlen mussten. Auch das erinnern an die Mordtaten und Hinrichtungen des NS-Regimes in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges.

Ansatzpunkte für Wege zum Frieden in Nahost funktionieren nicht mit stupidem Antisemitismus

Die Frage ist also: Wo liegt der Ausweg aus dem seit Jahrzehnten immer wieder angeheizten Konflikt? Der Weltsicherheitsrat hat am 25. März nach verschiedenen Anläufen – dank der Enthaltung der USA – eine Resolution verabschiedet, die einen sofortigen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln fordert. Die Liste der 14 Länder im Weltsicherheitsrat, die einstimmig dieser Resolution folgten, ist sehr bemerkenswert: Neben den ständigen Mitgliedern (China, Frankreich, Russland und Großbritannien) fanden sich dort vereint die nichtständigen Mitglieder: Algerien, Ecuador, Guyana, Japan, Malta, Mosambik, Südkorea, Sierra Leone, Slowenien und die Schweiz. Man kann nicht umhin anzuerkennen, dass viele dieser Staaten, die nicht gerade von antisemitischen Glaubenssätzen geprägt sind, einen ersten Ansatzpunkt zu einer Friedenslösung ausprobiert haben. Weitere Anläufe müssen folgen.

Dem steht die von Nethanyahu unterstützte Siedlungspolitik im Westjordanland – wie gerade erst wieder mit der Aneignung von 800 Hektar Land auf palästinensischem Gebiet – ebenso wie repressive Maßnahmen gegen arabische Israelis im eigenen Land seit Jahren im Weg. Es war ein Fehler der Unterstützer:innen von Israel, auch früherer deutscher Regierungen, davor die Augen verschlossen und dazu geschwiegen zu haben. Denn nicht mit der Drangsalierung der dortigen Bevölkerung durch radikale israelischen Siedler, sondern nur mit ehrlich gemeinten Bemühungen um ein friedliches Nebeneinander und Miteinanderleben lässt sich die Chance für einen Neuanfang eröffnen. Beispielhaft steht dafür die Aussöhnung zwischen den Völkern, wie sie zwischen den „Erbfeinden“ Frankreich und Deutschland möglich wurde und hoffentlich nun auch mit Polen wiederbelebt wird.

Die USA, Deutschland und andere Länder verfolgen eine Zwei-Staaten-Lösung, die von der israelischen Regierung abgelehnt wird. Tatsächlich sind die Wunden zwischen den beiden Völkern wieder so tief, dass selbst gut gemeinte, sehr bemerkenswerte Initiativen zur Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Juden und Palästinensern kaum die Chance haben, Gehör und Akzeptanz zu finden.

Budgetkürzungen bei der Außen- und Entwicklungspolitik sind der falsche Weg. Wir brauchen gezielten Einsatz von Finanzmitteln zur Demokratieförderung

Es bedarf hierfür vorsichtiger, neues Vertrauen schaffender Zwischenschritte. Diese Ansätze und Ideen scheinen auf beiden Seiten zur Zeit noch nicht mehrheitsfähig zu sein. Wege zum Frieden zu verstärken, ist deshalb auch Aufgabe der deutschen feministischen Außen- und Entwicklungspolitik. Budgetkürzungen bei diesen Ressorts, wie das Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) einfordert, sind der falsche Weg. Denn zur Außen- und Entwicklungspolitik gehören mehr als nur Lebensmittelhilfen und Aufbauhilfen für zerstörte Siedlungen, sondern vor allem auch gezielte finanzielle Hilfen zur Demokratieförderung: Es liegt im deutschen Interesse, weltweit Initiativen zu unterstützen, um Menschen dafür zu gewinnen, dass Gewalt keinen Beitrag zum Frieden leistet, sondern die Chance hierfür gerade in der Anerkennung und Gewährleistung der Menschenrechte liegt. Dafür braucht es nicht weniger, sondern mehr Geld im Bundeshaushalt – beispielsweise zur Förderung von Bildungseinrichtungen, die entsprechende Lerninhalte vermitteln und der Billigung geschlechtsspezifischer Gewalt entgegenwirken.

Erziehung zum Frieden brauchen wir nicht nur im Nahen Osten, sondern übrigens, wie die Hochschulproteste hierzulande zeigen, auch hierzulande – mehr denn je.

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