zwd Berlin. Als Leitmotiv hat sich der diesjährige Ehrengast der Frankfurter Buchmesse Philippinen ein Zitat aus einem berühmten Roman des Nationalhelden und Schriftstellers José Rizal gewählt. Gleich am ersten der Besuchertage werden die neuen, deutschsprachigen Übersetzungen von Rizals herausragenden Werken (Noli Me Tangere, El Filibusterismo) von Fachleuten vorgestellt (Freitag, Pavillon, 14.00 Uhr) und im Kontext von Geschichte und Literatur verortet. Die Dichtkunst beschwöre hier „die Macht des Buches als Quelle von Fantasie und Spekulation", schreibt der Ehrengast-Kurator Dr. Patrick Flores in einer weiter gefassten Interpretation der Romanzeile, die einer beunruhigenden Episode entstammt, wo Rizal berichtet, wie eine verstörte Mutter im Dunkeln verzweifelt auf die Rückkehr ihrer vermissten Söhne wartet und in der Nacht empfänglich für Glauben und Vorstellung wird.
Fantasie als kraftvolles Mittel gegen Unrecht und Unterdrückung
Rizal, der „die Befreiung des (philippinischen) Volkes von drei Jahrhunderten der Kolonialisierung anstieß“, sei kein mit Schwert ausgerüsteter Krieger, sondern ein Schriftsteller gewesen, „der die Vorstellungskraft zu seiner schärfsten Waffe machte“, hob die philippinische Senatorin für Kunst und Kultur Loren Legarda (NPC, Nationale Volks-Koalition) in ihrer Rede am Eröffnungstag hervor. Die Fantasie stelle das Gefährt dar, welches das Volk „über Berge und Wasser hinweg“ bewege, erläuterte Legarda laut tagesschau-Bericht (15. Oktober), sie erhelle „die dunklen Ecken, in denen sich Ungerechtigkeit“ verberge. Das Motto spiegele „das tiefgreifende Zusammenspiel von philippinischer Literatur, Kultur und Geschichte wider“, kommentierten die Veranstalter:innen der Buchmesse. Der Literat, Arzt, Universalgelehrte und Künstler Rizal, der sich für politische Reformen einsetzte und mit seinem ersten Roman (Noli Me Tangere, 1887, dt. 2025) die Rebellion der Philippiner:innen gegen die spanische Herrschaft inspirierte, wurde nach dem Ausbruch der Revolution auf Befehl der Kolonialregierung hingerichtet.
Fast paritätischer Ehrengast-Auftritt mit bekannten Schriftstellerinnen
Die Philippinen präsentieren sich auf der 77. Frankfurter Buchmesse im lichten, luftig wirkenden Ehrengast-Pavillon, der als begehbare Inselgruppe angelegt und aus natürlichen, für das Land typischen Materialien, wie Bambus, Muscheln und Ananasfasern, erbaut ist, sowie auf weiteren Bühnen mit über 150 Lesungen, Diskussionen, Performances, Workshops und Ausstellungen. Das Gastland reiste mit einem Team von 121 hochkarätigen Autor:innen, Künstler:innen, Illustrator:innen und sonstigen Kreativen an, darunter 51 Frauen (42,1 Prozent), und einer Liste von 66 neu auf Deutsch veröffentlichten Büchern (einschließlich landeskundlicher Titel) , 173 internationale Übersetzungen von Werken aller literarischen Genres sind schon vermittelt.
Zur Delegation des Ehrengastlandes, das angefangen bei der Lyrikerin und Dramatikerin Leona J. Florentino (1849 – 1884) bis zu renommierten Feministinnen wie Lualhati Bautista (1945 – 2023) und Marjorie Evasco (geb. 1953) über eine reichhaltige Tradition von Frauenliteratur verfügt, gehören z.B. die philippinisch-amerikanischen Friedens-Nobelpreisträgerin und Menschenrechts-Verteidigerin Maria Ressa, die in ihrem Buch How to Stand up to a Dictator (2022, dt. 2025) ihren Kampf gegen Autoritarismus, für Freiheit und Demokratie beschreibt, die mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Dichterin Mookie Katigbak-Lacuesta (Assembling Alice, 2021), die feministische Prosa-Autorin Beverly Wico Siy (It´s a Mens World, 2011), die Schriftstellerin Jessica Zafra (Ein ziemlich böses Mädchen, 2020, dt. 2025) oder die erfolgreiche Jugendbuch-Verfasserin Candy Gourlay (Wild Song, 2023, dt. 2025).
Autorinnen diskutieren über Schreiberfahrungen und Selbstbehauptung
Für das allgemeine Publikum finden auch einige gender- und frauenbezogene Veranstaltungen statt, wie eine Diskussion philippinischer Autorinnen über Schreiberfahrungen in der europäischen Diaspora (Samstag, Pavillon, 13.00 Uhr). Schriftstellerinnen, Kreative und Verlegerinnen debattieren darüber, wie sie beharrlich Schranken überwinden und mit ihren Geschichten Spuren in der Literaturszene hinterlassen (Samstag, Philippinen-Stand, 16.00 Uhr), weibliche Kunst- und Medienschaffende erzählen über ihr Erleben von Unabhängigkeit und kritischer Selbstbehauptung gegenüber jeglicher Art von Zensur.(Sonntag, Pavillon, 11.00 Uhr). Bis zum Sonntag erwarten die Veranstalter:innen über 200.000 Besucher:innen (ARD, 15.Oktober), 4.350 Verlage sind mit ihren Büchern und Produkten vertreten.
Gastland vermittelt Einblicke in Kolonialismus und Gesellschaftswandel
Die Frankfurter Buchmesse zeige, „was Literatur vermag“, betonte Buchmessen-Direktor Juergen Boos zum Auftakt des fünftägigen Bücher- und Verlagsereignisses am Dienstagabend. Sie verbinde Menschen miteinander, halte Widersprüche aus und öffne Perspektiven. Diese „Begabung, verbindend zu sein“, bilde auch eine politische Aufgabe, der sich die Messe in diesem Jahr mit besonderer Dringlichkeit widme. Über den Ehrengast-Auftritt sagte Boos auf einer Pressekonferenz im Sommer, durch die philippinische Literatur werde man „Einblicke in koloniales Erbe und gesellschaftlichen Wandel bekommen“, das Programm stelle „Beziehungen zwischen Kontinenten und Generationen her“, zwischen Kolonialismus, Klimaänderungen und Zukunftsvisionen.
„Wenn wir unsere Geschichten mitteilen, beweisen wir einmal mehr die Bedeutung von Demokratie, Menschenrechten und den Werten, für die unser Volk bis auf den heutigen Tag weiter kämpft“, erklärte die philippinische Kultur-Senatorin Legarda. Im Vorfeld hatte sie ausgeführt, die Philippinen würden eine „Sammlung von Stimmen“ nach Frankfurt mitbringen, die sich „einzelnen Narrativen widersetzt, von denen jedes einen Teil des Ganzen erzählt und ein Porträt der Menschlichkeit in ihrer kompliziertesten, wahrhaftigsten Form bietet“. Die Chefin des philippinischen Literatur-Programms Karina Bolasco unterstrich, die Ehrengast-Bühnen würden Foren bieten, um „Ideen einzubringen, die vom Gedächtnis geleitet und vom Widerstand gegen jede Art von entstehender oder etablierter Ungerechtigkeit angetrieben“ seien.
zwd-Sonderausgabe: Philippinische Gleichstellung und Frauenliteratur sowie Situation des Bildungswesens
Der zwd beleuchtet in seinem Buchmessen-Spezial u.a. politische Teilhabe von Frauen und Geschlechter-Gleichstellung auf den Philippinen. In einem Interview legen die Schriftstellerinnen Katigbak-Lacuesta und Wico Siy ihre Sichtweisen vom Einfluss des Feminismus auf die philippinische Frauenliteratur, die Position von Autorinnen in der Literaturszene und moderne Tendenzen weiblichen Schreibens dar. zwd-Autorin Ulrike Günther stellt Leser:innen wichtige Neuerscheinungen philippinischer Frauen-Bücher vor, wie den – mit dem Palanca-Preis geehrten, 2002 mit der Schauspielerin Vilma Santos verfilmten - Roman Die 70er (1983, dt. 2025) der für Frauenrechte engagierten, gesellschaftskritischen Literatin Lualhati Bautista, Stille im August (2019, dt. 2025) der Prosa-Schriftstellerin, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Caroline Hau oder das erzählende Sachbuch Wie es mir gefällt (2025) der philippinisch-indischen Journalistin, Autorin und Werbetexterin Deepa Paul.
Im bildungspolitischen Teil skizziert Hilda Lührig-Nockemann den Kinderalltag und die Bildugsrealität auf den Philippinen und konstatiert: „Lernarmut und materielle Armut gehen Hand in Hand". Neben den öffentlichen Schulen (mit karger Ausstattung) stehen der gehobenen Bildungsschicht katholische Schulen und internationale Eliteschulen zur Verfügung, deren Schulgeld für philippinische "Normalverdiener:innen" meist nicht erschwinglich ist. In diesem Zusammenhang wird auch das Angebot der Deutschen Europäischen Schule Manila beleuchtet, das aus Haushaltsmitteln des Auswärtigen Amtes gefördert wird.
Die digitale Ausgabe des zwd-POLITIKMAGAZINs (409) zur Frankfurter Buchmesse steht Abonnent:innen zum Download (ab 20.10.2025) zur Verfügung.