Verzicht auf Erststimme oder Stichwahl in Direktwahlkreisen?
Für Klöckner geht es um die Frage, ob zukünftig auf die Erststimme grundsätzlich verzichtet werden sollte oder ob ihr wieder mehr zur Geltung verholfen werden sollte.Klöckner hat dazu keinen eigenen Vorschlag gemacht. Eine Lösung wird letztlich nach Auffassung von Wahlrechtsexperten nur mit der Durchführung von Stichwahlen in den Direktwahlkreisen möglich sein. Ein Modell – eine „integrierte Stichwahl“ – hat der Wahlrechtsexperte Prof. Dr. Robert Vehrkamp im zwd-POLITIKMAGAZIN zur Diskussion gestellt.
Die von der Ampel-Koalition mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP beschlossene Zweitstimmendeckung hat dazu geführt, dass 23 Direktkandidat:innen trotz eines (meist geringen) Vorsprungs in ihrem Wahlkreis gegenüber ihren Mitbewerber:innen nicht den Bundestag einziehen konnten, weil ihrer Partei die nötige Zweitstimmendeckung aufgrund des schlechten Zweitstimmenergebnisses auf Landesebenen fehlte. Infolgedessen sind drei Wahlkreise in Hessen und einer in Baden-Württemberg sogar überhaupt nicht durch Abgeordnete im Bundestag vertreten. Diese Regelung war vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet worden.
Nach Auffassung von Klöckner würde es bei Weitergelten dieser Regelung schwieriger, jemanden zu überzeugen, noch für einen Wahlkreis direkt zu kandidieren. So wie das Wahlrecht jetzt sei, „haben wir ein Legitimierungsproblem gegenüber der Bevölkerung und ein Repräsentationsproblem“. Auf diese Weise sei die Erststimme entwertet worden, fügte Klöckner hinzu.
Stichwahl, wie? Ein Kommentar aus der Sicht der Gesellschaft Chancengleichheit
Das von Klöckner angesprochene Legitimationsproblem stellt sich allerdings auch in anderer Hinsicht, hat die Gesellschaft Chancengleichheit in einer am 6. August veröffentlichten Stellungnahme eingewendet. Denn einerseits habe Klöckner nicht die reale Situation angesprochen, dass in den Bundestag gewählte Abgeordnete – vor allen in den Großstädten – überwiegend nicht einmal 40 Prozent der Stimmen im Wahlkreis auf sich vereinigen konnten. Es sei durchaus zu hinterfragen, ob ein mit 21 Prozent der Wählerstimmen in den Bundestag gewählter Bundestagsabgeordneter wirklich über die ausreichende Legitimität verfüge, die Interessen der (Mehrheit der) Wählerinnen seines Wahlkreises zu vertreten.Und anderseits habe Klöckner sich – anders als ihre Vorgängerin Bärbel Bas (SPD) – bisher nicht zum Legitimationsproblem der unzulänglichen Repräsentanz von Frauen im Bundestag geäußert. Das aber ist bei jeder weiteren Wahlrechtsreform zu bedenken.
Von der Gesellschaft Chancengleichheit wird deshalb eine Stichwahl nach französischem Vorbild, aber unter Berücksichtigung einer angemessenen Teilhabe von Frauen, zur Diskussion gestellt. Das Modell könne durchaus mit der Zweistimmendeckung in Einklang gebracht werden. Damit der Bundestag bei der Größenordnung von 630 Abgeordneten bleibt, wird in Umrissen folgende Lösung zur Diskussion gestellt:
"VORSCHLAG ZU ECKPUNKTEN EINER WAHLKRECHTSREFORM
- Die Zahl der Bundestagswahlkreise wird auf 252 (statt 299) reduziert.
- BEGRÜNDUNG: Allen mit der Erststimme Gewählten soll der Einzug in den Bundestag ermöglicht werden, ohne dass die Zusammensetzung des Bundestages gemäß Zweistimmenergebnis in Frage gestellt werden muss.
- Die Anzahl der auf Landeslisten zu wählenden Abgeordneten wird auf 378 (statt bisher 331) erhöht.
- BEGRÜNDUNG: Damit bleibt es iunsgesamt bei 630 Abgeordneten. Die Zweistimme entscheidet über die Zusammensetzung des Bundestages. Um zu gewährleisten, dass dabei eine ausreichende Zahl von Frauen zum Zuge kommt, könnte hierzu ergänzend geregelt werden, dass Frauen auf mindestens zur Hälfte auf den ersten 50 Plätzen der Landeslisten in angemessener Form vertreten sein müssen – wobeiu sich das Reißverschlussprinzip anbietet.
- Direkt gewählt ist nur, wer im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhält.
- BEGRÜNDUNG: Damit wird ausgeschlossen, dass ein Wahlkreisbewerber oder eine Wahlkreisbewerberin mit einem Erststimmenergebnis von lkaum mehr als 20 Prozent in den Bundestag einziehen kann (wie bei den Wahlen von 2021 oder 2025)
- Hat keine bzw. keiner der Bewerberinnen und Bewerber im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit erreicht, findet 14 Tage nach dem ersten Wahlgang eine Stichwahl mit dem bestplatzierten männlichen Bewerber und der bestplatzierten Bewerberin statt.
- BEGRÜNDUNG: Die Neuregelung ermöglicht, dass die Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit erhalten, zwischen dem bestplatzierten Mann und der bestplatzierten Frau zu entscheiden
- Wird in diesem Wahlgang die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen (also bei Mitzählung der Enthaltungen) nicht erreicht, ist der Bewerber oder die Bewerberin nicht gewählt.
- BEGRÜNDUNG: Nur damit wird das von Bundestagspräsidentin Klöckner reklamierte Legitimitätsproblem gelöst. Die Entscheidung, wer den Wahlkreis im Bundestag vertreten soll, liegt bei den Wählerinnen und Wählern des Wahlkreises. Würde keine der zur Wahl stehenden Personen die absolute Mehrheit der Stimmen erreichen, würde das letztlich in der Verantwortung der Parteien liegen, die für die personellen Vorschläge verantwortlich sind.
Ziel einer neuerlichen Wahlrechtsreform muss nach Auffassung der Gesellschaft Chancengleichheit sein, mit der Bundestagswahl Frauen größeren Chancen zu eröffnen, in den Bundestag gewählt zu werden. Nur mit einer Lösung, die eine ausreichende Repräsentanz von Frauen im Bundestag ermöglicht, ist eine neuerliche Wahlrechtsreform zu rechtfertigen.
Nach dem vorgeschlagenen Modell werden die Rechte der Parteien nach Art. 38 GG nicht verletzt: denn die Entscheidung über Kandidaturen liegt weiterhin bei den Parteien, die ihre Kandidatinnen und Kandidaten aufstellen, und letztlich bei den Wählerinnen und Wählern, die über die Bewerberinnen und Bewerber frei entscheiden können."