BUNDESTAGSPRÄSIDENTIN REKLAMIERT LEGITIMITÄT DER ABGEORDNETENWAHL : Keine Wahlrechtsreform ohne mehr Frauen im Bundestag

8. August 2025 // Nachrichtenredaktion / Holger H. Lührig

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) hat die Fraktionen des Bundestages aufgefordert, eine erneute Änderung des Bundestagswahlrechts in Angriff zu nehmen. Sie sieht ein Legitimitätsproblem, wenn mit der Erststimme direkt gewählte Wahlkreisbewerber:innen aufgrund der Zweistimmendeckung kein Abgeordnetenmandat erhalten haben. Die von Klöckner angestoßene Legitimitätsdebatte wirft auch ein Schlaglicht auf die unterdurchschnittliche Repräsentanz von Frauen im Bundestag. Keine Wahlrechtsreform ohne mehr Frauen im Bundestag, fordert die Gesellschaft Chancengleichheit. Der Vorstand der Gesellschaft hat dazu den Vorschlag zur Diskussion gestellt, eine Stichwahl einzuführen.

Verzicht auf Erststimme oder Stichwahl in Direktwahlkreisen?

Für Klöckner geht es um die Frage, ob zukünftig auf die Erststimme grundsätzlich verzichtet werden sollte oder ob ihr wieder mehr zur Geltung verholfen werden sollte. Klöckner hat dazu keinen eigenen Vorschlag gemacht. Sie hat auch nicht dazu Stellung genommen, ob Kandidatinnen und Kandidaten mit einer relativen Stimmenmehrheit von beispielsweise weniger als einen Drittel der abgegebenen Stimmen (oder noch weniger) ausreichend legitimiert sind, einen Wahlkreis im Bundestag zu vertreten. Dass weniger als ein Drittel der Mitglieder des Bundestages weiblich sind und das Parlament zu mehr als zwei Dritteln aus Männern besteht, hat Klöckner ebenfalls nicht als Legitimitätsproblem angesprochen.

Die von der Ampel-Koalition mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP beschlossene, von Klöckner kritisierte Zweitstimmendeckung hat dazu geführt, dass 23 Direktkandidat:innen trotz eines (meist geringen) Vorsprungs in ihrem Wahlkreis gegenüber ihren Mitbewerber:innen nicht den Bundestag einziehen konnten, weil ihrer Partei die nötige Zweitstimmendeckung aufgrund des schlechten Zweitstimmenergebnisses auf Landesebenen fehlte. Infolgedessen sind drei Wahlkreise in Hessen und einer in Baden-Württemberg überhaupt nicht durch Abgeordnete im Bundestag vertreten. Diese Regelung war vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet worden, wird aber in Teilen der Bevölkerung, insbesondere in den betroffenen Wahlkreisen und von den Wahlkreisbewerber:innen, nicht verstanden. CDU und CSU kämpfen seit Jahren für eine neuerliche Wahlrechtsreform.

Nach Auffassung von Klöckner würde es bei Weitergelten dieser Regelung schwieriger, jemanden zu überzeugen, noch für einen Wahlkreis direkt zu kandidieren. So wie das Wahlrecht jetzt sei, „haben wir ein Legitimierungsproblem gegenüber der Bevölkerung und ein Repräsentationsproblem“. Auf diese Weise sei die Erststimme entwertet worden, fügte Klöckner hinzu.

Eine Lösung wird letztlich nach Auffassung von Wahlrechtsexperten nur mit der Durchführung von Stichwahlen in den Direktwahlkreisen möglich sein. Das Modell einer „integrierte Stichwahl“ – hat der Wahlrechtsexperte Prof. Dr. Robert Vehrkamp im zwd-POLITIKMAGAZIN zur Diskussion gestellt.

Stichwahl, wie? Ein Kommentar aus der Sicht der Gesellschaft Chancengleichheit

Das von Klöckner angesprochene Legitimationsproblem stellt sich allerdings auch in anderer Hinsicht, hat die Gesellschaft Chancengleichheit in einer am 8. August veröffentlichten Stellungnahme eingewendet. Denn einerseits habe Klöckner nicht die reale Situation angesprochen, dass in den Bundestag gewählte Abgeordnete – vor allen in den Großstädten – überwiegend nicht einmal 40 Prozent der Stimmen im Wahlkreis auf sich vereinigen konnten. Es sei durchaus zu hinterfragen, ob ein mit 21 Prozent der Wählerstimmen in den Bundestag gewählter Bundestagsabgeordneter wirklich über die ausreichende Legitimität verfüge, die Interessen der (Mehrheit der) Wählerinnen seines Wahlkreises zu vertreten. Und anderseits habe Klöckner sich – anders als ihre Vorgängerin Bärbel Bas (SPD) – bisher nicht zum Legitimationsproblem der unzulänglichen Repräsentanz von Frauen im Bundestag geäußert. Das aber ist bei jeder weiteren Wahlrechtsreform zu bedenken.

Im Koalitiinsvertrag von CDU, CDU und SPD 2025 wird auf die angesprochenen Punkte explizit hingewiesen:

"Wir werden das bestehende Bundestagswahlrecht ändern:
Wir wollen eine Wahlrechtskommission einsetzen, die die Wahlrechtsreform 4512 2023 evaluieren und im Jahr 2025 Vorschläge unterbreiten soll, wie jeder Bewerber mit Erststimmenmehrheit in den Bundestag einziehen kann und der Bundestag unter Beachtung des Zweitstimmenergebnisses grundsätzlich bei der aktuellen Größe verbleiben kann. Ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren soll dann unverzüglich eingeleitet werden. Dabei soll auch geprüft werden, wie die gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen im Parlament gewährleistet werden kann und ob Menschen ab 16 Jahren an der Wahl teilnehmen sollten."

Daran anknüpfend hat die Gesellschaft Chancengleichheit heute Eckpunkte zu der anhängigen Derbatte veröffentlcht, die auch die Forderung nach einer gleichberechtigten Repräsentanz von Frauen im Parlament aufgreift. Als eine Möglichkeit wird im Zusammenhang mit der Direktwahl eine Stichwahl nach französischem Vorbild befürwortet. Das Modell könne durchaus mit der Zweistimmendeckung in Einklang gebracht werden. Eine Besonderheit des Vorschlages der Gesellschaft Chancenbgleichheit ist, Elemente voin mehr Geschlechtergerechtigkeit mit der Wahlrechtrsreformdebatte zu verbinden.


VORSCHLAG ZU ECKPUNKTEN EINER WAHLKRECHTSREFORM

  • Die Zahl der Bundestagswahlkreise wird auf 252 (statt 299) reduziert.
    • BEGRÜNDUNG: Allen mit der Erststimme Gewählten soll grundsätzlich der Einzug in den Bundestag ermöglicht werden, ohne dass die Zusammensetzung des Bundestages gemäß Zweistimmenergebnis in Frage gestellt werden muss.
  • Die Anzahl der auf Landeslisten zu wählenden Abgeordneten wird auf 378 (statt bisher 331) erhöht.
    • BEGRÜNDUNG: Es bleibt bei insgesamt 630 Abgeordneten. Die Zweistimme entscheidet über die Zusammensetzung des Bundestages. Um zu gewährleisten, dass dabei eine ausreichende Zahl von Frauen zum Zuge kommt, soll im Interesse der geschlechtergerechten Verteilung der Abgeordnetensitze hierzu ergänzend geregelt werden, dass Frauen auf mindestens zur Hälfte auf den ersten 50 Plätzen der Landeslisten in angemessener Form vertreten sein müssen. Das Reißverschlussprinzip kann gewährleisten, dass Bewerberinnen nicht auf den hinteren aussichtsloen Plätzen einsortiert werden.
  • Direkt gewählt ist nur, wer im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhält. Bie der
    • BEGRÜNDUNG: Damit wird ausgeschlossen, dass ein Wahlkreisbewerber oder eine Wahlkreisbewerberin mit einem Erststimmenergebnis mit weniger als 30 Prozent in den Bundestag einziehen kann (wie bei den Wahlen von 2021 oder 2025). Damit soll der Tatsache entgegengewirkt werden, dass bei der relativen Mehrheitswahl ist in Deutschland in aller Regel (weitaus) mehr als die Hälfte der Stimmen "erfolgswertlos" ist. Wie der Parlamentarische Dienst des Landtags Brandenburg festgestellt hat, waren bei der Bundestagswahl 2021 in Brandenburg in jedem Wahlkreis mindestens 66 Prozent der Erststimmen von Erfolgswertlosigkeit betroffen, weil kein Wahlkreissieger mehr als 34 Prozent der Erstimmen erhielt. Bei der Bundestagswahl 2025 habe die Wahlkreissieger:innen, die wegen der fehlenden Zweistiummendeckung kein Mandat erhalten nhaben, überwiegend weniger als 32 Prozent der Stimmen erhalten.
  • Hat keine bzw. keiner der Bewerberinnen und Bewerber im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit erreicht, findet 14 Tage nach dem ersten Wahlgang eine Stichwahl statt. Im Interesse einer geschlechtergerechten Mandatsverteilung im Bundestag wird die Stichwahl mit dem bestplatzierten männlichen Bewerber und der bestplatzierten Bewerberin durchgeführt.
    • BEGRÜNDUNG: Diedser Vorschlag weicht von der Stichwahlpraxuis sowohl bei Landrats- und Bürgermeisterwahlen in FDeutschland als auch im Ausland ab. Die Neuregelung ermöglicht, dass die Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit erhalten, zwischen dem bestplatzierten Mann und der bestplatzierten Frau zu entscheiden. Diese Regelung soll das Geschlechterdefiztit zulasten der Bewerberinnen verringern helfen.
  • Wird in diesem Wahlgang die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen (also bei Mitzählung der Enthaltungen) nicht erreicht, ist der Bewerber oder die Bewerberin nicht gewählt.
    • BEGRÜNDUNG: Nur damit wird das von Bundestagspräsidentin Klöckner reklamierte Legitimitätsproblem gelöst. Die Entscheidung, wer den Wahlkreis im Bundestag vertreten soll, liegt bei den Wählerinnen und Wählern des Wahlkreises. Würde keine der zur Wahl stehenden Personen die absolute Mehrheit der Stimmen erreichen, würde das letztlich in der Verantwortung der Parteien liegen, die für die personellen Vorschläge verantwortlich sind. Angesichts der Tatsache, dass bei der letzten Bundestagswahl 2025 nur wenige Parlamentsangehörige mit mehr als 50 Prozent der Stimmen gewählt wurden, wird bei einer Stichwahl ein Parteienbündnis zur Durchsetzung einer Kandidat:in in Betracht kommen. Das bietet sich insbesondere in Ostdeutschland an, wo die Wahlkreise überwiegend mit relativer Mehrheit an die AfD gegangen sind, obwohl mehr als die Hälfte der Erststimmen auf andere denoikratische Parteien entfielen.

Ziel einer neuerlichen Wahlrechtsreform muss nach Auffassung der Gesellschaft Chancengleichheit sein, mit der Bundestagswahl Frauen größere Chancen zu eröffnen, in den Bundestag gewählt zu werden. Nur mit einer Lösung, die eine ausreichende Repräsentanz von Frauen im Bundestag ermöglicht, ist eine neuerliche Wahlrechtsreform zu rechtfertigen. Bedauerlicherweise hat sich die Wahlrechtskomission des 20. Deutsche Bundestages nicht zum Maßnahmen zur Verstärkung des Frauenanteils im Bundestag - wie beispielsweise zu der vorgeschlagenen Paritätslösung - durchringen können. Das Thema bleibt auf der Agenda, wie sich an der Tatsache zeigt, dass 2025 nur 32,4 Prozent der Bundestagsmitglieder Frauen sind.

Nach dem vorgeschlagenen Modell werden die Rechte der Parteien nach Art. 38 GG nicht verletzt: denn die Entscheidung über Kandidaturen liegt weiterhin bei den Parteien, die ihre Kandidatinnen und Kandidaten aufstellen, und letztlich bei den Wählerinnen und Wählern, die über die Bewerberinnen und Bewerber frei entscheiden können."



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