zwd Berlin. Für ihre Arbeit im Präsidium der neuen Schiedsgerichtsbarkeit setzten sie sich als Ziel, „dass Ansprüche wegen NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut besser durchgesetzt werden können“, kommentierten die Gründungspräsident:innen Dr. Elisabeth Steiner, frühere Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, und der ehemalige Verfassungsrichter und saarländische Ministerpräsident Peter Müller am Montag den offiziellen Start des Gremiums. Die vom Bund, den Ländern und Kommunen unter Mitwirkung des Zentralrates der Juden in Deutschland und der Jewish Claims Conference (JCC) eingerichtete Schiedsgerichtsbarkeit bilde einen „alternative(n) Streitbeilegungsmechanismus“ bei Differenzen zur Rückgabe von NS-Raubgut, erläutern sie im Grußwort auf dem Online-Portal.
Laut Steiner und Müller können Opfer von NS-Kunstraub oder deren Nachkommen Schiedsverfahren vor den zuständigen Gerichten einleiten, vorausgesetzt dass die Kulturgüter aufbewahrende Einrichtung ein sog. stehendes Angebot abgegeben hat oder diese selbst dem Einschalten des Gremiums zustimmt. Bisher liegen nach Angaben des Schiedspräsidiums 177 solcher verbindlichen, die uneingeschränkte Einwilligung in das Prozedere gegenüber jeglichen Antragsberechtigten erteilenden Angebote vor, u.a. von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), der Hamburger Kunsthalle und dem Kunsthaus Nordrhein-Westfalen.
SPD: Schiedsgericht als erster Schritt, Restitutionsgesetz muss folgen
Mit der Schiedsgerichtsbarkeit sei die Möglichkeit geschaffen, „Restitutionsfälle unabhängig, verbindlich und opferorientiert zu entscheiden“, betonte die zuständige Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion Nancy Faeser in einer Stellungnahme. Dass Betroffene dieses einseitig anrufen können, wertete sie als „entscheidende(n) Fortschritt“. Wenn einzelne öffentliche Institutionen bisher die Untersuchung von kontroversen Fällen über Jahre hinweg blockierten, erhielten Opfer oder deren Nachfahren nun „erstmals einen realen und erleichterten Zugang zu einem fairen Verfahren“.
Zahlreiche jüdische Familien würden auch 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch auf die Restitution ihrer von den Nazis geraubten Kunstwerke warten. Streitigkeiten wie im berühmten Beispiel von Pablo Picassos Gemälde Madame Soler verdeutlichten, „wie dringend verbindliche Strukturen gebraucht werden“, sagte die SPD-Politikerin. Die Einsetzung der Schiedsgerichtsbarkeit erfülle eine zentrale, im Koalitionsvertrag festgeschriebene Vereinbarung. Faeser mahnte jedoch, auf diesen „erste(n), wichtige(n) Schritt“ müsse „ein wirksames Restitutionsgesetz“ folgen. Eindeutige gesetzliche Regeln seien erforderlich, die auch nicht-staatliche Halter:innen von Kulturgütern verpflichten, diese einer Prüfung von Ansprüchen auf Rückgabe zu unterziehen. Nur auf diese Art „schaffen wir Rechtsklarheit für alle Beteiligten und sorgen für mehr Gerechtigkeit“, so Faeser.
Weimer: Gremium eröffnet verbindliches Verfahren zu mehr Gerechtigkeit
Kulturstaatsminister Dr. Wolfram Weimer (BKM, parteilos) erklärte zur Arbeitsaufnahme des Gremiums, die Bundesregierung setze damit ein „deutliches Zeichen“ im Sinne der historischen Verantwortung des Staates. „Für viele Familien, denen während der NS-Zeit nicht nur ihr Eigentum, sondern auch ihre Würde und ihre Zukunft geraubt wurden, eröffnen wir einen neuen und verbindlichen Weg zu mehr Gerechtigkeit“, hob Weimer hervor. Die Einrichtung des Schiedsgremiums sei mehr als „eine institutionelle Reform“, sie bedeute auch einen „Ausdruck unserer moralischen Verpflichtung gegenüber den Opfern und ihren Erben“. Schiedspräsidentin Steiner sieht es für die Gründungsphase als wesentlich an, „die vielen Vorteile des Verfahrens zu kommunizieren und Vertrauen zu schaffen“. Ihr Präsidiumskollege Müller stellte heraus, die Schiedsinstitution führe „zu einem juristisch stärker abgesicherten Verfahren“, das die Aufarbeitung von NS-Kunstraub weiter vorantreibe.
Die Präsidentin der Kultur-Ministerkonferenz und Sachsens Staatsministerin für Kultur Barbara Klepsch (Union) nannte es einen „große(n) Fortschritt“, dass Betroffene das Gremium einseitig einschalten und auf ein faires, transparentes Verfahren vertrauen dürften. Für die Länder sei es auschlaggebend, dass sie „alles tun, um offene Fälle (…) zu guten Lösungen zu führen“. Die Schiedsgerichtsbarkeit ersetzt die seit 2003 tätige Beratende Kommission zur Rückgabe von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut, insbesondere aus jüdischem Besitz, und soll die Aufklärung von strittigen Fällen verbessern. Die Schiedsgerichte fällen nach einem festgelegten Bewertungsrahmen mit Regeln für Beweisführung und Erleichterung von Beweisen rechtsgültige Urteile. Die in Berlin ansässige Schiedsstelle unterstützt das Verfahren und fungiert als Ansprechpartnerin für Fragen zur Schiedsinstitution.
Zentralrat der Juden, JCC: Brauchen Gesetz für Kulturgüter in Privatbesitz
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Dr. Josef Schuster und der JCC-Repräsentant in Europa Rüdiger Mahlo begrüßten die Schaffung der Schiedsgerichtsbarkeit ausdrücklich. Schuster wertete es als deutliche Verbesserung, dass Opfer oder deren Nachfahren verbindlich und einseitig auf juristischem Wege Ansprüche an in der Nazi-Zeit geraubte, in öffentlichen Institutionen befindliche Kulturgüter erheben können. Wie Mahlo von der JCC fordert er aber eine darauf aufbauende, weitere Stufe der „Gerechtigkeit für Opfer des nationalsozialistischen Kulturgüterraubs“, damit auch deren Anrecht auf Raubkunst in privatem Besitz eine Rechtsgrundlage erhält. Beide berufen sich auf den Koalitionsvertrag, in dem sich die Regierungsparteien verpflichtet haben, ein umfassendes Restitutionsgesetz aufzulegen. Man vertraue darauf, dass die Koalition „dieses Versprechen zeitnah einlöst“, unterstrich Mahlo.
Im Vertrag von Union und SPD heißt es: „Wir werden die Provenienzforschung intensivieren, die Schiedsgerichtsbarkeit einführen und ein wirksames Restitutionsgesetz schaffen“. Bereits im September hatte ein vom Bund, Ländern, Kommunen, Zentralrat der Juden und JCC gebildeter Auswahlausschuss das Verzeichnis der paritätisch von allen Beteiligten benannten Schiedsrichter:innen aufgestellt. Außer den Schiedspräsident:innen Richter und Müller gehören 34 weitere Jurist:innen, Historiker:innen mit Schwerpunkt Nationalsozialismus und Kunstgeschichtler:innen mit Berufserfahrung in Provenienzforschung zu NS-Raubgütern dem Gremium an. Der hessische Kultur- und Forschungsminister Timon Gremmels (SPD) bekräftigte als Vertreter der Bundesländer anlässlich der Bekanntgabe der Schiedsrichter:innen das „gemeinsame kulturpolitische Versprechen“, keines der öffentlichen, Kulturgut bewahrenden Häuser solle sich „künftig der Aufarbeitung der eigenen Sammlung verschließen können“.
Aktualisierte Handreichung zur Rückgabe von NS-Raubgut erschienen
Fast gleichzeitig mit der Einrichtung der Schiedsgerichtsbarkeit veröffentlichte der BKM eine vom Bund, den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden gemeinsam erarbeitete aktualisierte Fassung der Handreichung zur Auffindung und Rückgabe von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut nach der Erklärung vom Dezember 1999 als Online-Dokument. Diese bündelt nach Aussagen von Kulturstaatsminister Weimer „das Wissen und die Erfahrungen der letzten Jahre und schafft mehr Klarheit und Sicherheit in der Praxis“. Wie der Präsident des Deutschen Städtetages und Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) darlegte, hilft die Neufassung das mit der Schiedsgerichtsbarkeit verwirklichte „rechtssichere Verfahren praxisgerecht aufbereitet in kommunalen Museen, Bibliotheken und Archiven zu verankern“.
In der überarbeiteten Handreichung löst der Bewertungsrahmen für die Schiedsverfahren die bislang darin ausgeführte Orientierungshilfe ab. Weitere Neuerungen betreffen Informationen über die Schiedsgerichtsbarkeit, Hinweise, wie faire und gerechte Lösungen bei Streitfällen zu NS-Raubgut zu erreichen sind, sowie eine Liste der für Rückgabefragen relevanten Anlaufstellen. 126.620 Suchanfragen nach im Nationalsozialismus unberechtigt entwendeten Kunstwerken sind derzeit in der Lost Art-Datenbank verzeichnet. Schätzungen der JCC (März 2024) zufolge wurden über 600.000 Gemälde sowie Millionen Bücher, religiöse Objekte und Kulturgüter von den Nazis geraubt. Seit den 1998 von 44 Ländern inklusive der Bundesrepublik befürworteten Washingtoner Prinzipien zur Provenienzforschung und Rückgabe von NS-Raubgut wurden nach Daten des BKM von Deutschland über 7.700 Kunstwerke, mehr als 27.500 Bücher und zahllose Schriftstücke den rechtmäßigen Eigentümer:innen bzw. deren Nachfahren zurückgegeben oder in anderer Weise faire und gerechte Lösungen gefunden.