Zum Hintergrund der Initiative: Die Bundesministerinnen Bettina Stark-Watzinger (FDP) und Lisa Paus (Grüne) sowie deren Häuser verwendet in amtlichen Regierungsdokumenten den Begriff „Chancengerechtigkeit“, augenscheinlich entweder wegen einer gewissen Geschichtsvergessenheit oder, um sich gegen das SPD-Postulat zur Herstellung von Chancengleichheit abzugrenzen. Dabei war der von der SPD verwendete Begriff aus der Tradition des Aufklärung erwachsen und zum Reformbegriff eines bürgerlich-liberalen Aufstiegsversprechens geworden. Demgemäß hatten Anfang der 60er Jahre, als die Benachteiligung von Arbeiterkindern gegenüber Akademikerkindern aufgrund der sozialen Herkunft unübersehbar geworden war, renommierte Hochschullehrer wie Georg Picht und Ralf Dahrendort (FDP) gegen den „Bildungsnotstand“ die Herstellung von Chancengleichheit als Ziel von bildungspolitischen Reformen eingefordert.
Im Jahre 1964 veröffentlichte der SPD-Parteivorstand ein Positionspapier als Broschüre unter dem Titel „Aufstieg durch Bildung“. Es war die alternative Antwort auf die Zementierung der Drei-Klassen-Bildung (Volksschule, Realschule, Gymnasium) durch die CDU-geführten Nachkriegsregierungen. In der Adenauer-Ära wollten die politisch Verantwortlichen, gestützt auf eine konservative Begabungstheorie, glauben machen, Kinder seien von Anbeginn an nur „spezifisch begabt“. Konkret wurde dabei unterstellt, dass Kinder aus Arbeiterfamilien eben wieder nur Arbeiter:innen werden könnten und Kinder aus Akademikerfamilien eben in der Regel nur Akademiker:innen. Ende der 60er Jahre hat der Deutsche Bildungsrat zum Leidwesen der Konservativen mit dieser wissenschaftlich nicht haltbaren Theorie aufgeräumt und den Weg zur Öffnung und Durchlässigkeit des Bildungswesens für alle Kinder gewiesen. Mit der Bildung der sozialliberalen Koalition von SPD und FDP hat die von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) geführte Bundesregierung 1969 das politische Klima geschaffen, das vielen Arbeiterkindern den Weg in die Fachhochschulen und Universitäten eröffnete. Die Regierungserklärung von Brandt stellte "Bildung und Wissenschaft an der Spitze der Reformen". Der vom 1969 neu gebildeten Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft herausgegebene „Bildungsbericht 70“ (erarbeitet unter der Federführung der damaligen Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher [FDP]) bildete ab 1970 die Leitlinie für eine Bildungspolitik für Bund und Länder: Die Herstellung von Chancengleichheit wurde als das zentrale Ziel der Reform des Bildungswesens definiert.
Die Unionsparteien stellten diesem Reformversprechen unter Federführung des rheinland-pfälzischen Kultusministers Bernhard Vogel (CDU) und des bayerischen Kultusministers Hans Meier (CSU) dann 1971 ihre Ideologie der „Bildungsgerechtigkeit“ entgegen. Die zielte darauf ab, die Begabungsunterschiede neu zu begründen, um letztlich das dreigliedrige Schulsystem gegen integrierte Gesamtschulen zu verteidigen. Jedes Kind solle entsprechend „seinen Begabungen“ und damit dem „Glück“, in welchem Elternhaus es geboren wurde, gefördert werden – aber dementsprechend nur in diesem Rahmen. Die Relikte dieses Kulturkampfes werden alljährlich in den bundesdeutschen Bildungsberichten und OECD-Vergleichen augenscheinlich.“
Quelle: Holger H. Lührig: Chancengleichheit versus Chancengerechtigkeit, veröffentlicht in der Beilage „Chancen.Gleichheit und Politik“ im zwd-POLITIKMAGAZIN Nr. 388 (2021)