ESSAY VON JAN-MARTIN WIARDA : "Die wehrhafte Demokratie sind wir"

19. Januar 2024 // Gastbeitrag: Jan-Martin Wiarda

Wer glaubt, Rechtsradikale mit einem eigenen Ruck nach rechts schwächen zu können, hat die Lektionen der Geschichte nicht verstanden. Und wer glaubt, Wutbürger durch Nachgeben zu besänftigen, der füttert nur deren Unersättlichkeit. Ein nachlesenswerter Essay des Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten Jan-Martin Wiarda, den wir hier mit seiner Genehmigung nachdrucken.

ES GEHT MIR wie so vielen im Augenblick: Ich erledige meine Arbeit, doch etwas ist anders als sonst. Ich berichte aus Bildung und Forschung, versuche, am Puls der Zeit zu sein, lesenswerte Analysen und Interviews zu liefern. Ich freue mich, wenn ich wieder einmal einen Scoop landen kann, wie wir Journalisten das nennen: eine Nachricht, eine Neuigkeit, die sonst noch keiner hat.

Doch alles, was ich tue, wird zunehmend überlagert von der einen großen Sorge, die ich in meinem gesamten Erwachsenenleben so nicht gekannt habe. Die Sorge um die Zukunft unserer Demokratie, unserer offenen Gesellschaft. Natürlich, tröste ich mich, trage ich mit meiner Arbeit zu dieser Offenheit bei, ich tue meinen Teil. Doch beschleichen mich jeden Tag ein bisschen mehr die Zweifel: Tue ich genug? Verliere ich mich zu sehr im politischen und journalistischen Alltag, im Klein-Klein, anstatt für das Große und Ganze einzutreten?

Mir – und hoffentlich auch Ihnen – ist klar: Jetzt ist es ernst. Wenn wir jetzt nicht loslegen und verteidigen, was wir – bei allen Unzulänglichkeiten, Verkrustungen und Modernisierungsrückständen – an unserer Republik haben, dann kann keiner von uns irgendwann behaupten, wir hätten nicht gewusst, was da auf uns zukommt.

Wer das Einknicken vor einer lautstarken
Minderheit als demokratisches Einlenken verklärt,
verliert die Mehrheit aus dem Blick.

Für mich heißt verteidigen: nicht hart gegen die Schwächsten zu sein, nicht gegen Benachteiligte und Geflüchtete. Sondern hart zu stehen mit und für die Werte, die wir haben. Gegenüber allen, die sie in Frage stellen. Egal, woher sie kommen. Wer glaubt, Rechtsradikale und Rechtspopulisten mit einem eigenen Ruck nach rechts schwächen zu können, hat die Lektionen der Geschichte nicht verstanden. Wer glaubt, Wutbürger und Ellbogen-Lobbyisten durch Nachgeben zu besänftigen, der füttert nur deren Unersättlichkeit. Kompromisslosigkeit versteht nur Kompromisslosigkeit.

Und wer Einknicken vor dem Druck einer lautstarken Minderheit als demokratisches Einlenken verklärt, verliert die Mehrheit aus dem Blick. Und am Ende verliert die Mehrheit die Macht an eine Minderheit.

Eine wehrhafte Demokratie fängt da an, wo sie sich nicht die Diskurse der Undemokraten aufzwingen lässt. Wo nicht aus einer demokratischen Partei populistische Sprüche zulasten einer anderen kommen, sondern allen klar ist: Billige Schuldzuweisungen von Demokraten untereinander zugunsten kleinster politischer Geländegewinne ist immer ein Minusgeschäft für die Demokratie insgesamt zugunsten der Rechten.

Eine Demokratie ist dann wehrhaft, wenn sie nicht die Interessen der Laut-Aggressiven bedient auf Kosten derjenigen, die sich nicht wehren können. Wenn Politik nicht unhaltbare Versprechungen macht, dass sich nichts ändert, sondern unermüdlich erklärt, warum und wie Deutschland sich anpassen muss an den demografischen Wandel, an tiefgreifende technologische und wirtschaftliche Umwälzungen. Wenn die Politik dann auch durchzieht, was sie sagt, und Belastungen nach Vernunft und Fairness verteilt und nicht dorthin, wo der öffentliche Widerstand geringer ist. Ich habe hierzu Anfang 2023 einen Essay geschrieben, und ich finde, er trifft es immer noch. "Mit dem Modell der 70er Jahre gewinnen wir nicht das 21. Jahrhundert" hieß er.

Wieder Gefallen an der eigenen Zukunft finden,
Zuversicht und Spaß an dem, was möglich ist.

Eine wehrhafte Demokratie würde deshalb, und da spricht jetzt doch wieder der Bildungsjournalist, gerade in einer Zeit wie jetzt nicht an Bildung und Wissenschaft sparen, sondern versuchen, Geist, Kreativität, Neugier und intellektuellen Widerspruch wie nie zuvor zum Blühen zu bringen. Und dabei wieder Gefallen an der eigenen Zukunft finden, Zuversicht und Spaß an dem, was möglich ist. Immer noch und gerade jetzt.

Was mich selbst ein wenig optimistisch macht: Viele äußern sich gerade ganz ähnlich wie ich in Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, gehen demonstrieren oder denken darüber nach. Es ist noch nicht so weit, aber es könnte etwas in Gang kommen, die Demokratie könnte endlich ihre Zähne zeigen. Legen wir los?


Der Essay wurde im zuerst im Newsletter von Jan-Martin Wiarda veröffentlicht. Hier geht es zu seinem Blog, der auch eine Reihe von Antworten von Leser:innen enthält.

Was Wiarda über sich selbst schreibt: WER ICH BIN

Artikel als E-Mail versenden