KINDERRECHTE-INDEX 2025 | UNICEF-BERICHT LAGE DER KINDER : SPD fordert Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz

13. Dezember 2025 // Ulrike Günther

Bei der Umsetzung der Kinderrechte gibt es immer noch große Lücken, Chancen sind regional stark unterschiedlich verteilt. Das zeigt der aktuelle Kinderrechte-Index des Deutschen Kinderhilfswerks (DKHW). Die SPD ruft zur Kooperation aller Verantwortlichen auf und fordert, Rechte von Kindern im Grundgesetz zu verankern. Das DKHW plädiert für eine die Ressorts übergreifende Kinder- und Jugendpolitik, die Linken treten wie die Grünen und UNICEF mit Blick auf die hohe Kinderarmuts-Rate für mehr Investitionen zugunsten benachteiligter Kinder ein.

Die Bedingungen für gutes Aufwachsen sind sehr unterschiedlich verteilt. - Bild: UNICEF/  Annette Etges
Die Bedingungen für gutes Aufwachsen sind sehr unterschiedlich verteilt. - Bild: UNICEF/ Annette Etges

zwd Berlin. Der Kinderrechte-Index 2025 mache deutlich, dass es „bei der Umsetzung von zentralen Rechten für Kinder (…) in allen Bundesländern“ noch eine Menge Spielraum gebe, erklärte die familienpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Jasmina Hostert zur Veröffentlichung der DKHW-Studie am Donnerstag. Das betreffe sowohl frühkindliche Bildung als auch ärztliche Versorgung, Freizeitangebote wie echte Beteiligung. Hostert warb für eine Kooperation aller Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen.

SPD: Rechte von Kindern gehören in das Grundgesetz

Der Kinderbeauftragte der Sozialdemokrat/innen Truels Reichardt wies darauf hin, dass die einzelnen Kinderrechte, wie Bildung, Schutz, Prävention und Gesundheit, eng miteinander verknüpft seien. Soziale Teilhabe ist aus seiner Sicht bedeutsam „im Kampf gegen Kinderarmut“. Trotz beachtlicher Fortschritte an vielen Orten seien zahlreiche Maßnahmen von befristeten Projektmitteln abhängig anstatt von längerfristig abgesicherten Strukturen, beklagte Reichardt. Der SPD-Politiker betonte, seine Fraktion werde weiter dafür eintreten, Kinderrechte „in allen Lebensbereichen konsequent“ zu verwirklichen, und plädierte wie schon anlässlich des Internationalen Tages der Kinderrechte (20. November) für deren Aufnahme ins Grundgesetz.

DKHW: Umsetzung der UN-KRK ist Frage politischen Willens

Der Bericht zeige, dass Chancen junger Menschen in der Bundesrepublik „nicht nur aufgrund ihres Elternhauses, sondern auch regional sehr unterschiedlich verteilt sind“, hob die Vizepräsidentin des DKHW Anne Lütkes hervor. Auch 33 Jahre, nachdem die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) in der Bundesrepublik in Kraft trat, sehe man sich bei den Rechten von Kindern weiterhin „einem föderalen Flickenteppich“ gegenüber. Jedes der Länder solle über den Vergleich mit guter Praxis anderswo seine „kinderrechtlichen Bemühungen (…) verstärken“, empfahl Lütkes. Für die DKHW-Vizepräsidentin wird an der Studie erkennbar, dass Umsetzung von Kinderrechten nicht bloß eine Frage der verfügbaren Finanzen, „vielmehr des politischen Willens“ bildet.

Fortschritte hätten sich seit dem Kinderrechte-Index von 2019 länderbezogen u.a. durch gesetzliches Stärken von Beteiligungsrechten von Kindern und Heranwachsenden, Entwicklung von Landesstrategien zum Kinderschutz oder neue Programme zum Beseitigen von Kinderarmut ergeben. Doch keines der Bundesländer setzt laut Lütkes die Rechte von Kindern umfassend um. Sie forderte „eine ressortübergreifende Kinder- und Jugendpolitik“ in sämtlichen Ländern und begleitende Strategien zur Realisierung der Kinderrechte, besonders hinsichtlich der Beteiligung von Minderjährigen sowie der Förderung entsprechender Strukturen. Lütkes engagierte sich ebenso dafür, die psychosoziale wie mentale Gesundheit der Kinder zu stärken, „Landesstrategien zur Kinderarmutsprävention“ zum Standard zu machen sowie kommunale Vorsorge-Netzwerke für denselben Zweck zu fördern.

Kinderrechte-Monitoring aufgrund fehlender Daten erforderlich

Überdies erachtet sie es für sinnvoll, ein bundesweites, durch Indikatoren gestütztes Monitoring von Kinderrechten zu etablieren, an dem man die jungen Menschen auch selbst beteiligen sollte, da es in entscheidenden Bereichen, wie Gesundheit und Armutserleben, an genügend aufgeschlüsselten, fortlaufend erhobenen Daten fehle. Insgesamt die besten Ergebnisse erzielten im Vergleich der Bundesländer bei der Realisierung der UN-KRK Berlin, Hamburg, Brandenburg, Thüringen und Schleswig-Holstein. Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein punkteten z.B. bei den Rechten auf Beteiligung und Schutz überdurchschnittlich, Thüringen, Sachsen und Bayern beim Recht auf Gesundheit, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg beim Recht auf angemessenen Lebensstandard, Niedersachsen und Hamburg beim Recht auf Bildung, Berlin und Baden-Württemberg beim Recht auf Freizeit und kulturelle Teilhabe.

Der Kinderrechte-Index basiert auf 101 von Forscher/innen entwickelten Indikatoren auf Grundlage der UN-KRK, wobei die Rechte auf Beteiligung, Schutz, Gesundheit, angemessenen Lebensstandard, Bildung und Freizeit in den Mittelpunkt gerückt wurden. Analysen der (gesetzlichen und institutionellen) Rahmenbedingungen, Befragungen der Landesministerien sowie eine statistisch repräsentative, 2024 durchgeführte Umfrage bei 3.218 10- bis 17-Jährigen und Einschätzungen des DKHW-Kinder- und Jugendbeirates ergänzten die verwendeten Methoden.

Die Linken: Bei Kinderarmut gibt es ein Handlungsdefizit

In der Bundesrepublik würde „die Situation von Kindern (…) nicht besser, sondern schlechter“, schrieb die Vorsitzende der Linksfraktion Heidi Reichinnek zum UNICEF-Bericht über die Lage von Kindern in Deutschland in einem zwd-Kommentar am 28. November. Dieses Resultat wertete sie für die weltweit drittgrößte Volkswirtschaft als schändlich und eindeutiges Indiz dafür, dass “Einkommen und Vermögen in ganz erheblichem Maße ungleich verteilt“ seien. Zu den vielfältigen, bereits bekannten Folgen der Kinderarmut gehören Reichinnek zufolge mangelnde vollwertige Ernährung, äußerst beengte Wohnverhältnisse, unterschiedliche Bildungschancen sowie soziale Isolation.

Es gebe „kein Erkenntnisdefizit, (…) einzig ein Handlungsdefizit“, unterstrich die Linken-Politikerin, gleichzeitig kinderpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Sie kritisierte, es lägen zahlreiche Lösungsansätze vor, wie Kindergrundsicherung, kostenfreies Mittagessen in Schule und Kita, verbesserte Gesundheitsversorgung und höhere Investitionen in Bildung und Kinder- und Jugendhilfe. Dennoch stünde keine der Maßnahmen für die Koalition zur Debatte. Als ein Gegenargument gegen diese ihrer Ansicht nach sich möglichen Herangehensweisen verweigernde Haltung führte Reichinnek u.a. wissenschaftliche Berechnungen an, wonach die Konsequenzen von Kinderarmut den Staat jährlich mehr als 100 Mrd. Euro kosten. D.h. auch vonseiten liberal-konservativer Politiker/innen, die bevorzugt aus wirtschaftlichem Kalkül handeln, sei es „schlicht und ergreifend unsinnig“, soziale Benachteiligung bei Kindern nicht entschlossenzu bekämpfen.

SPD-Fraktionsvize: Kinder ärmerer Familien brauchen adäquate Angebote

Für die Vize-Vorsitzende der SPD-Fraktion Dagmar Schmidt belegt der UNICEF-Report, dass Teilhabe über die Zukunft entscheide. Kinder bräuchten Orte, wo sie sich entwickeln und sich ausprobieren könnten. Darüber hinaus werde aus der Studie ersichtlich, wie stark Kinder und Heranwachsende immer noch gesundheitlich unter Pandemie-Folgen, wie fehlenden Sozialkontakten und Bewegungsmangel, zu leiden hätten. Schmidt setzte sich dafür ein, Gesundheitsfürsorge in der Kinderpolitik zu verankern. Insbesondere Kinder ärmerer Familien bräuchten „passgenaue Angebote und Unterstützung“. Die SPD-Fraktionsvize berief sich auf den Koalitionsvertrag, in dem die Regierungsparteien in Aussicht stellten, die frühen Hilfen auszubauen, quartierbezogene Kinder- und Jugendhilfe zu fördern und die Kinder wie Jugendlichen psychotherapeutisch besser zu versorgen. Schmidt drängte darauf, jetzt „mit den zuständigen Ministerien die nächsten Schritte zu vereinbaren“, um konkrete Verbesserungen für die Kinder zu erreichen.

Die Grünen: Kampf gegen Kinderarmut muss politische Priorität haben

Die stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Fraktion Misbah Khan appellierte an die Bundesregierung, „eine umfassende Gesamtstrategie“ gegen Kinderarmut vorzulegen. Die Zahlen aus dem UNICEF-Bericht bezeichnete Khan als alarmierend, sie kämen aber nicht überraschend, da Forschung, Zivilgesellschaft und sogar staatliche Institutionen seit Jahren vor sozialer Ungleichheit warnten. Wie die Linken-Fraktionschefin Reichinnek prangerte die Grünen-Politikerin an, dass die Bundesrepublik trotz ihrer Wirtschaftskraft bei wichtigen Armutsindikatoren ungünstig abschneide. Weniger wirtschaftsstarke Staaten bewiesen, „dass Kinderarmut kein Schicksal“, stattdessen der Handlungswille der Politiker/innen ausschlaggebend sei. Sie rief die Bundesministerin für Familie Karin Prien und den Bundeskanzler Friedrich Merz (beide Union) auf, dem Kampf gegen Kinderarmut politische Priorität einzuräumen. Wie UNICEF Deutschland in den Handlungsempfehlungen des Reports verlangte die Grünen-Fraktionsvize „gezielte Investitionen in Familien, Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheit und Teilhabe“.

UNICEF: Soziale Ungleichheit größte Herausforderung für Kinder-Chancen

Der Vorsitzende von UNICEF Deutschland Georg Graf Waldersee nannte es bei der Vorstellung des Berichts in der Bundespressekonferenz am 12. November „bei nüchterner Betrachtung fahrlässig“, dass es für Kinder in der Bundesrepublik zu wenig Fortschritte gebe. Wer heute nicht genug für die Kinder tue, gefährde die Zukunft des Landes, mahnte Graf Waldersee. Er konstatierte: „Soziale Ungleichheit bleibt die größte Herausforderung, wenn es um Chancen für Kinder geht.“ UNICEF stuft bundesweit von derzeit rund 14 Millionen Kindern ca. 1,3 Millionen als depriviert ein, d.h. grundlegende Bedürfnisse, wie vollwertige Ernährung, ein zweites Paar Schuhe, eine hinreichend beheizte Wohnung oder eine Urlaubsreise von einer Woche pro Jahr, können nicht erfüllt werden.

UN-Recht auf gute Kindheit ist in Bundesrepublik als Gesetz verpflichtend

Graf Waldersee zeigte sich beunruhigt, dass mehr als 62.000 Jugendliche die Schule jedes Jahr ohne Abschlusszeugnis verlassen. „Armut und Perspektivlosigkeit“ würden sich seit Jahren verfestigen. Er bemängelte, dass es „noch immer (…) an einer politischen Gesamtstrategie gegen Kinderarmut“ fehle, und gab zu bedenken, dass wirtschaftlicher Aufschwung allein Kinder nicht von Armut befreie. Umgekehrt stärke jedes heute geförderte Kind den künftigen gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wohlstand. Graf Waldersee erinnerte daran, dass das „Recht jedes Kindes auf eine gute Kindheit“ in der UN-KRK festgelegt und in der Bundesrepublik Gesetz sei. Wie die Grünen-Politikerin Khan riet er, Kindern oberste politische Priorität einzuräumen.

Konkret bedeutet das nach Auffassung von UNICEF, gezielt „in besonders benachteiligte Kinder“ zu investieren, z.B. von Alleinerziehenden, Mehrkinderhaushalten oder Geflüchteten. Außerdem schlägt die UN-Organisation vor, das Startchancen-Programm für Schulen auszubauen und vergleichbare Konzepte für Kitas zu entwickeln. Der Bund solle ein Maßnahmenpaket auflegen, um Kinderarmut zu reduzieren, darin inbegriffen bürokratische Hürden beim Zugang zu Sozialleistungen abbauen, Vereinbaren von Beruf und Familie verbessern und für mehr Mitbeteiligung Minderjähriger sorgen, z.B. durch Kinderbeauftragte auf Ebene von Bund und Ländern.

Kinderarmut wirkt sich auf alle Lebensbereiche nachteilig aus

Der Report mache anschaulich, „wie sich Armut von Kindern auf wirklich alle Lebensbereiche nachteilig auswirkt“, stellte die Vorstandsvorsitzende des Deutschen Jugendinstituts (DJI) Prof.in Sabine Walper heraus. Sie steigere z.B. das Risiko beengter Wohnverhältnisse, schlechterer Bildungschancen, schwächerer Förderung in Familien, fehlender Freizeit, gesundheitlicher Belastungen und weniger gesellschaftlicher Teilhabe. Umso wichtiger sei es, „Strukturen so zu reformieren, dass alle Kinder unabhängig von der Herkunft faire Chancen auf ein gutes Aufwachsen haben“. Zu wesentlichen Voraussetzungen zählt die Leiterin der Studie Walper „ein starkes Bildungs- und Gesundheitssystem, (…) eine vielfältige und wirkungsvolle Kinder- und Jugendhilfe und (…) bessere Zugänge der Eltern zu guter Arbeit“.

Wie die SPD macht sich UNICEF seit vielen Jahren dafür stark, die UN-Kinderrechte im Grundgesetz festzuschreiben, was die Position der Kinder stärke und auch gegenüber Kommunen, Gerichten und Öffentlichkeit die Rechte als gültig bekräftige. Nach Aussagen von UNICEF verbleibt die Quote des Armutsrisikos bundesdeutscher Kinder, gemessen am Anteil der Minderjährigen, die von unter 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens leben müssen, in der Bundesrepublik seit Jahren bei rund 15 Prozent, 2024 betrug sie 15,2 Prozent. 12 Prozent aller Kinder bundesweit sind auf Leistungen über die Grundsicherung angewiesen. Von insgesamt 12 ausgewählten Staaten Europas wiesen nach der Statistik von Eurostat 2024 bloß Ungarn, Spanien und die Slowakei höhere Anteile (12,9 – 10,7 Prozent) von Kindern mit erheblichen materiellen und sozialen Entbehrungen auf als Deutschland (7,4 Prozent).

Bei benachteiligten Mädchen subjektives Wohlbefinden am geringsten

Fast ein Viertel armutsgefährdeter Kinder kann es sich nach UNICEF-Daten nicht leisten, an Freizeitaktivitäten teilzunehmen. In Norwegen oder Finnland seien es z.B. nur 5 bzw. 7 Prozent aus solchen Familien, was offenkundig mache, dass gesellschaftliche Teilhabe durch akzeptable Rahmenbedingungen möglich werde. Im Bereich sozialer Beziehungen berichtete jedes fünfte Grundschulkind über Einsamkeitsgefühle, eine/r von elf Jugendlichen erlebte Mobbing. Vor allem mit höherem Lebensalter würden unterprivilegierte junge Menschen – durch Krisen beförderte – Zukunftsängste empfinden. Unter den 15- bis 17-Jährigen waren es 2023 bei deprivierten Mädchen und Jungen 46 bzw. 41 Prozent, bei nicht-deprivierten 44 bzw. 32 Prozent. Verschärft haben sich regelmäßige gesundheitliche Beschwerden von Kindern. 2022 vermeldeten 40 Prozent der 11- bis 15-Jährigen, mehrmals wöchentlich bzw. täglich von Kopf- oder Bauchschmerzen, Schlafproblemen o.ä. geplagt zu werden. 2024 gaben das lediglich 24 Prozent der Altersgruppe an.

Auf einer Skala von 0 bis 100 beurteilten bundesdeutsche Kinder ihr psychisches Wohlbefinden und ihre Lebenszufriedenheit mit 51 bis 67 Punkten. Mädchen aus unterprivilegierten Familien erreichten den geringsten Durchschnittswert von 51 Punkten, knapp über der Schwellengrenze (50 Punkte) für depressive Anzeichen. Anlass zur Sorge gibt nach Aussagen von UNICEF die Wohnsituation sozial benachteiligter Kinder. 44 Prozent von ihnen leben in beengten, überbelegten Wohnungen, ca. 130.000 wohnungslose Minderjährige sind in kommunalen Einrichtungen untergebracht, Tausende Migrantenkinder in speziellen Unterkünften für Flüchtlinge. Seit 2006 gibt UNICEF Deutschland Berichte zur Lage der Kinder in der Bundesrepublik heraus. Den diesjährigen, sechsten Report erarbeitete im Auftrag der UN-Organisation das DJI unter Leitung seiner Vorstandsvorsitzenden Walper und unter Mitwirkung von 26 weiteren wissenschaftlichen Fachleuten, erstmalig wurden 23 Jugendliche bei Auswahl von Schwerpunkten und Gestaltung beteiligt. Die Grundlage der Untersuchung stellten amtliche Statistiken, Sekundäranalysen und repräsentativer Befragungen dar.






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