SPD-LANDESPARTEITAG BERLIN : Rücktrittsforderungen an Giffey und Saleh (noch verklausuliert)

26. Mai 2023 // Redaktion

Am heutigen Freitag debattiert ein SPD-Landesparteitag in Berlin erstmals über die Ursachen für das schlechteste Wahlergebnis der Partei seit der Wiedervereinigung. Die bisherigen Rechtfertigungen der SPD-Landesvorsitzenden Franziska Giffey, die Partei in eine Koalition unter Führung der CDU zu manövrieren, haben bei Parteimitgliedern eher zu mehr Verdruss als zu Zustimmung geführt. Ihre kurz vor der Wiederholungswahl ausgesprochene unverhohlene Werbung für die FDP, die als "stabiler Faktor" im Abgeordnetenhaus gebraucht würde, wird ihr ebenso angelastet wie ihre Selbstdarstellung "Berlin braucht mich". Auf dem Berliner Landesparteitag wird das Stimmungsbild den Ausschlag dafür geben, ob sich Giffey und ihr Co-Vorsitzender Saleh noch bis zur Neuwahl 2024 im Amt halten können. Ein Kommentar im zwd-POLITIKMAGAZIN hat die Kritik zusammengefasst.

Grafik: zwd (A.Kröll). Foto Giffey: Jonas Holthaus
Grafik: zwd (A.Kröll). Foto Giffey: Jonas Holthaus

Zur Entscheidung der SPD-Berlin zur Koalitionsbildung mit der CDU

HOLGER H. LÜHRIG

Die Botschaft war so eindeutig wie falsch. Die Lesart der auf Twitter verbreiteten Nachricht des SPD-Landesvorstandes suggerierte, eine "klare" Mehrheit der Berliner SPD-Mitglieder von mehr als 50 Prozent hätte für eine Koalition mit der CDU votiert. Nicht nur weite Teile der Medien, sondern sogar auch die Jusos gingen dieser Lesart auf den Leim. Denn tatsächlich haben lediglich 33,3 Prozent aller Berliner SPD-Mitglieder für diese Koalition gestimmt.

Nur bei genauerem Hinsehen wird deutlich, wie die Abstimmungsverhältnisse wirklich gelesen werden müssen: Von den 18.555 Berliner SPD-Mitgliedern haben sich 63,45 Prozent (11.886) an der Abstimmung beteiligt, anders ausgedrückt: 6.669 Mitglieder (35,94 %) haben sich nicht beteiligt, also mehr als die Zahl der Befürworter:innen einer CDU/SPD-Koalition, die mit 6.179 Mitgliedern (33,33 % aller SPD-Mitglieder) beim Mitgliedervotum mit Ja gestimmt haben. Die Nein-Sager:innen – es konnte nur mit ja oder nein abgestimmt werden – blieben mit 5.200 Stimmen (28,03 % aller Berliner SPD-Mitglieder) ebenfalls in der Minderheit.

Die Berechnung des SPD-Landesvorstandes basiert auf der Berechnung lediglich der gültigen Stimmen und kommt deshalb auf ein Votum von 54,3 Prozent der Ja-Stimmen, mithin zu einem schöngerechneten Ergebnis. Dass 507 Genoss:innen ungültige Stimmzettel abgegeben haben, darf aber bei der Bewertung des Abstimmungsergebnisses nicht unbeachtet bleiben: Es sind ja keine Stimmen zugunsten einer Koalition mit der CDU und relativieren – zusammengerechnet mit den 5.200 Nein-Stimmen sind es immerhin 5.707 Stimmen (48,01 % aller abgegebenen Stimmen) – das "klare" Abstimmungsergebnis. Denn bei dieser Berechnung schmilzt der Vorsprung des Ja-Sager:innen-Lagers auf 51,98 Prozent.

Und letztlich haben insgesamt 472 Stimmen beim Mitglieder-Votum den Ausschlag für die Koalition der SPD mit der CDU gegeben.

Ende einer links-grünen Ära – die Angst der SPD vor den Grünen

Innerparteilich hat die Strategie der beiden Landesvorsitzenden Giffey und Saleh tiefen Frust bei vielen Mitgliedern in der Berliner SPD ausgelöst und die parteiinterne Spaltung vertieft. Der Ärger, wie sich Giffey der von ihr ungeliebten rot-grün-roten Koalition entledigt hat, wird sich absehbar beim SPD-Landesparteitag am 26. Mai entladen. Dort steht zwar die Abwahl der beiden Vorsitzenden (noch) nicht auf der Tagesordnung, wohl aber die Forderung nach der Trennung von Amt und Mandat. Würde diese Trennung beschlossen werden, könnten sich Giffey und Saleh nicht mehr lange im Amt halten. Ohnehin wird beiden innerparteilich die mangelnde Bereitschaft vorgehalten, die desaströse Wahlniederlage in der Hauptstadt ernsthaft aufzuarbeiten. Dass Giffey und Saleh bei den Abgeordnetenhaus-Wahlen ihre jeweiligen Direktwahlkreise verloren haben, wiegt schwer; dass Giffeys eigener SPD-Kreisverband Neukölln ihr und der Koalition mit der CDU eine Abfuhr erteilt hat, ist kaum geringer zu bewerten. Die von Giffey reklamierte "Verantwortung für Berlin" wird ihr nicht abgenommen. Vielmehr wird ihr nachgesagt, sie habe sich nicht der Verantwortung gegenüber ihrer Partei gestellt, sondern sich vor einem absehbaren Karriere-Aus in die Koalition mit der CDU geflüchtet. Ins Feld geführt wird in diesem Zusammenhang auch, dass die 45-jährige Diplom-Verwaltungswirtin nach der Aberkennung ihres Doktor-Titels mit einer weiteren Plagiatsaffäre-Affäre zu ihrer Masterarbeit konfrontiert ist. Aber besonders verärgert hat Giffey viele Berliner:innen mit ihrer überheblichen Selbstdarstellung in der ZDF-Talk-Runde von Markus Lanz: "Berlin braucht mich". Mehr Demut wäre angesichts des schlechtesten Wahlergebnisses der SPD in Berlin seit der Wiedervereinigung 1990 geboten gewesen.

Kaum vorstellbar: zum dritten Mal 2026 Spitzenkandidatin?

Kaum vorstellbar ist jedenfalls, dass die ehemalige Regierungschefin nach 2021 und 2023 noch ein drittes Mal von ihrer Partei als Spitzenkandidatin auf den Schild gehoben wird. Dazu müsste das Gespann Wegner/Giffey in den nächsten beiden Jahren erst einmal unter Beweis stellen, dass die Koalition in der Lage ist, Berlin wirklich voranzubringen. Die Voraussetzungen sind nicht nur wegen der Kürze der Restwahlperiode denkbar schlecht: Die neue Koalition, die 46,6 Prozent der Zweitstimmen bei den Abgeordnetenhaus-Wahlen auf sich vereinigte, kann sich lediglich auf eine sechs-Stimmen-Mehrheit stützen. Und die ist mehr als brüchig, was sich daran zeigte, dass CDU-Chef Wegner drei Wahlgänge benötigte, um ins Amt gewählt zu werden. Aus dem ersten Wahlgang lässt sich angesichts der Gegner:innen in den eigenen Reihen von CDU und SPD ablesen, dass sich der neue Regierende Bürgermeister auf eine ehrliche Zustimmung von nur 71 Stimmen (bei 86 Mandaten von CDU und SPD) stützen kann. Ein zweifellos unsicheres Terrain, dass noch deutlichere Stolpersteine aufweisen dürfte, wenn die im Koalitionsvertrag übertünchten Gegensätze zwischen beiden Parteien im Verlaufe der Regierungsarbeit zu Tage treten. So viel sozialdemokratische Handschrift Wegner im Koalitionsvertrag auch schlucken musste, um Regierender zu werden – seine Parteifreund:innen werden schon bald von ihm eine christdemokratische Handschrift im Senat einfordern, die der sozialdemokratischen Regierungspartnerin wenig schmecken dürfte.

Es verwundert nicht, dass in der SPD schon Namen für die Giffey-Nachfolge gehandelt werden. Dafür spricht auch, dass trotz des von der Bundes-SPD selbst auferlegten generellen Zurückhaltungsgebots gegenüber den SPD-Landesverbänden bei Koalitionsbildungen SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert als direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Tempelhof-Schöneberg am 20. April, einen Tag vor Ablauf der Frist für das Mitgliedervotum, aus seinem Unmut über das angestrebte Bündnis mit der CDU keinen Hehl machte: "Gerade die Personalie Kai Wegner ist eine, die ich als Berliner für mehr als gewöhnungsbedürftig halte. Dieser Mann verkörpert wenig von meiner Heimatstadt, in der ich seit bald 34 Jahren lebe. Das tut mir weh." (SPIEGEL, 20.04.2023).

Strategie der Bundes-SPD

Dass Kühnert damit nicht früher in die Öffentlichkeit trat, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass das Vorgehen der Berliner SPD-Spitze laut Presseberichten mit den Vorsitzenden der SPD – Lars Klingbeil und Saskia Esken – und wohl auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz abgestimmt gewesen sein soll. Das würde nicht verwundern, scheint es doch so, als ob die Grünen vom Willy-Brandt-Haus zunehmend als bundesweiter Hauptkonkurrent der Sozialdemokrat:innen um Platz 2 hinter der CDU ausgemacht sind. Die SPD-Führung hatte offenbar das Interesse, nun nicht auch noch in der Hauptstadt die Regierungsmacht an ein Schwarz-Grünes Bündnis abgeben zu müssen, wie schon zuvor in den Bundesländern Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg. Giffey hatte zudem ein persönliches Interesse daran, dass ein schwarz-grüner Senat verhindert wurde: Laut Berliner Zeitung hätte ein CDU-geführter Senat mit der Grünen Bettina Jarosch als stellvertretende Bürgermeisterin über das Ruhegehalt für Giffey nach ihrem Ausscheiden aus dem Senat befinden müssen: "Bei Giffeys Machtkampf geht es auch um zwei Millionen Euro Pension", resümierte die BZ am 23. Februar 2023.

Dass die Abstimmungsverhältnisse im Bundesrat für die Scholz-Regierung noch schwieriger werden, hat man in der SPD-Parteizentrale augenscheinlich in Kauf genommen. Immerhin stehen Landtagswahlen vor der Tür, bei denen die Meinungsumfragen für die SPD keine Wiederkehr in eine Regierungsbeteiligung verheißen – in Hessen nicht, in Bayern ganz ausgeschlossen. Kaum anders erklärlich ist die Stützung der FDP im Clinch mit dem grünen Koalitionspartner durch Bundeskanzler Olaf Scholz. Der "bekennende Sozialliberale" (Scholz über Scholz) weiß, dass seine Kanzlerschaft am seidenen Faden der wechselfreudigen Freidemokraten hängt. Da sind die Grünen scheinbar (noch) ungefährlicher. Doch das klare Bekenntnis zu Rot-Grün beginnt bei der Ökö-Partei zu wackeln. So geräuschlos wie die Partei in den genannten Ländern die CDU-geführten Regierungen mitträgt, hat sie das mit den Sozialdemokrat:innen eher selten erlebt. Deshalb markiert das Berliner CDU/SPD-Bündnis auf eine ganz andere Weise eine parteipolitische Zeitenwende.

SPD auf den Wege, sich zu "verzwergen"

Die Grünen hatten in Berlin selbst nach der Wahl noch für das im Abgeordnetenhaus zahlenmäßig stärkste rot-grün-rote Bündnis unter SPD-Führung (90 Abgeordnetenmandate – 10 mehr als für die absolute Mehrheit nötig) geworben. Wenn sich die Bündnisgrünen von dem Scherbenhaufen erholt und neu sortiert haben, werden sie aus der Giffey-Kurswende gelernt haben, dass mit dem von ihnen favorisierten traditionell eher linken Bündnis keine dauerhafte und verlässliche Partnerschaft eingegangen werden kann. Sie werden sich, wie schon in einigen Ländern geschehen, neue Mehrheiten jenseits der SPD suchen. In der Konsequenz wird dann allerdings die Sozialdemokratie eine wichtige Machtoption verlieren, die sie längerfristig auf die Oppositionsbänke in den Ländern wie letztlich auch im Bund verweisen wird. Dass sie sich nicht "verzwergen" sollte, hatte der SPD-Linke Mark Rackles schon vor dem Kurswechsel in Richtung CDU gefordert. Die SPD ist jetzt auf bestem Wege dorthin (wie sich in einigen Ländern bereits zeigt).

Die Rolle der Berliner Medien

Nicht zu verkennen ist, dass die Koalitionen im Land Berlin wie im Bund einem konsequenten Medien-Bashing ausgesetzt sind. Allwöchentlich werden Meinungsumfragen von fragwürdiger Aussagekraft verbreitet, die nichts anderes zum Ziel haben, als den klaren Abstand der Unionsparteien vor SPD und Grünen und deren angebliche Regierungsunfähigkeit in den Köpfen der Bundesdeutschen fest zu verankern. Das Berliner Linksbündnis war den Berliner Zeitungen wie dem selbsternannten Leitmedium "TAGESSPIEGEL" von Anbeginn an ein Dorn im Auge. Die Art, wie die Meinungsunterschiede in der Ampel wiederkehrend medial zu einem Streitthema hochgejubelt werden, dient vor allem dazu, die Versäumnisse gerade von Unionspolitiker:innen in ihrer 16-jährigen Regierungsverantwortung zu überspielen. Auch die Berliner Links-Koalition konnte davon ein Lied singen. Singen muss sie vorerst nicht mehr.

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